»Und dabei ist er erwischt worden?«
»Unter seinen Genossen war ein Verräter, es war ein guter Freund. Als man meinen Vater gewarnt hat, soll er nur gelacht haben. Ein so guter Mensch konnte einfach nicht glauben, dass ein Freund ihn verraten würde.«
»Jedenfalls kannst du stolz sein auf deinen Vater. Er hat was gegen die Nazis getan, ist für eine sinnvolle Sache gestorben. Mein Vater ist verreckt, einfach so. Die Arbeit hatte ihn schon kaputt gemacht, lange bevor sie ihn getötet hat. Er war eigentlich schon tot, ehe er von der Grube hingerichtet worden ist. Deine wunderbare Arbeiterklasse besteht aus lauter kaputten Typen.«
Sophie protestierte.
»Du bist jetzt verbittert und ungerecht. Ich kenne vorbildliche Proletarier, klassenbewusste Menschen.«
»Das glaube ich dir gerne. Aber kennst du auch Arbeiter? Arbeiter sind ungebildet und grob, stinken nach Schweiß und riechen aus dem Mund, haben faule Zähne und ungewaschenes Haar, furzen viel und in der Öffentlichkeit, weil sie minderwertiges Zeugs essen, trinken sich um den Verstand, prügeln ihre Frauen und töten ihre eigene Seele − oder das, was die Arbeit ihnen davon gelassen hat.«
11
Am Mittag des folgenden Tages saß Philipp schon im Zug und fuhr in den Westen. Gleich morgens war er mit Sophie in die Parteizen-trale gegangen. Er musste im Vorzimmer eines Parteisekretärs warten, während Sophie mit dem Sekretär sprach. Sie bekam ein Schreiben, das Philipp als Kurier auswies, der auf dem Wege nach Düsseldorf in die KPD-Zentrale war.
»In Marienborn musst du umsteigen und mit der Kleinbahn bis zu einem Ort fahren, der Hötensleben heißt«, instruierte sie Philipp. »Dort fragst du nach dem Genossen Wendt, der bringt dich morgen vor Tagesanbruch über die Grenze und holt dich bei deiner Rückkehr auch wieder ab. Und vergiss nicht, du reist als Genosse, sag Genosse Wendt zu ihm!«
Werde ich es schaffen?, fragte Philipp sich. Es blieben ihm genau genommen nur zwei Tage für diese Reise. In Gedanken malte er sich den Ablauf der Trauerfeier aus: Sicher werden sie eine katholische Beerdigung ausrichten, dafür wird schon Oma Josepha sorgen. Auf diese Weise wird sie einen späten Sieg über ihren evangelischen und in seinem Leben in religiösen Dingen gleichgültigen Schwiegersohn erringen wollen. Der dicke Schreinermeister Heinkes wird ins Haus kommen, sie werden den Sarg aussuchen und die Ausstattung besprechen. So war es auch, als der bei ihnen lebende kranke Onkel Simon und ein Jahr danach Philipps Schwester Guste gestorben waren, beide an Schwindsucht. Nur zehn Jahre alt ist Guste geworden, und der Vater hat gemeint, Simon habe sie angesteckt. Der dicke Heinkes wird wieder klagen, dass im Bestattungsgeschäft nichts zu verdienen sei, und schon gar nichts bei Kinderbestattungen. »Du weißt schon, die kleinen Särge und so«, hatte er bei der Vorbereitung der Beerdigung von Philipps Schwester geklagt. Und dann hat er sich lange darüber ausgelassen, dass es bei den vielen geschäftlichen Sorgen mit ihm auch nicht mehr zum Besten stände. »Weißt du, Paul, ich krieg verdammt keinen mehr hoch; meine Alte beschwert sich schon.«
Philipp, der am Stuhl seines Vaters lehnte und mithörte, verstand das nicht, hatte er doch bei der Beerdigung von Onkel Simon gesehen, wie sechs Träger den großen Sarg hochgehoben und getragen haben.Das war nun über fünfzehn Jahre her, der dicke Heinkes verkaufte immer noch Särge, hat seine Werkstatt vergrößert, einen Ausstellungsraum gebaut, in dem die schönsten Särge mit wunderbaren Ausstattungen und Beschlägen zu bewundern sind, hat das Haus aufgestockt und die Geschäftsräume modernisiert.
Opa Ferdinand wird da sein. Beim Streuselkuchenessen nach der Bestattung wird er tüchtig zugreifen und seinen Kaffee schlürfen, wobei die braunen Spitzen seines sonst weißen Schnurrbartes tief in die Tasse hineinreichen. »Du geihst bi die Kommunisten?«, hatte er in breitem Dialekt, einem Gemisch aus Ostpreußisch und westfälischem Platt, Philipp beim Abschied gefragt. Das Hochdeutsche hat er im Alter verlernt. »Dei wollen allet updeelen, dei Kommunisten. Wenn de eenen Sack Kartüffel geernt hes un et kömmt en Kommunist vorbie, dann will hei de Hälft abhebben. De Hälft gehört mie, sägt de Kommunist. Nu dann pass ma gut op die op«, hat er noch gesagt, hat sich seine Joppe angezogen, ist in die Holzschuhe geschlüpft und in den Hühnerstall gegangen, um die Eier aus den Nestern zu nehmen.
Die Tanten Johanna und Emma werden auch mit ihren Männern kommen. Emma war schon früh aus der Scheune ausgezogen. Sie heiratete einen Versicherungsvertreter, der eine Hasenscharte hat. Schon als junge Frau wurde sie schwerhörig. Onkel Ditz, der eigentlich Dieter hieß, hatte sich daher angewöhnt, laut zu sprechen, und brachte bald nur noch Laute hervor, die zwar von seiner Frau, aber nicht mehr von den anderen Menschen als eine menschliche Sprache verstanden wurden.
Als junger Ehemann wurde Ditz bald arbeitslos, so dass Emma durch Nähen und gelegentliche Aushilfe in einem Schlachterladen für ein einigermaßen ausreichendes Einkommen sorgen musste. Ihr Mann bezeichnete und betätigte sich seitdem als Erfinder. Er bastelte und tüftelte an einer Konstruktion aus leeren Garnrollen und Gummibändern und versicherte allen, dass, wenn diese Erfindung einmal fertig sei, sie ohne Motor und immerzu laufen würde, sozusagen als ein perpetuum mobile.
Johanna hatte nach Emmas Auszug bald das Regiment in der Scheune übernommen, diese weiter ausbauen lassen und zu einer gemütlichen Wohnung eingerichtet. Ferdinand bekam eine auf dem Heuboden ausgebaute Kammer. Nach der Vergrößerung der Hühnerfarm übernahm Johanna den für die gewachsene Anzahl der Hühner zu klein gewordenen Schuppen als Waschküche, stellte einen Herd und einen Tisch hinein, so dass sie dort auch ihre Mahlzeiten einnehmen konnten. Bald wohnten sie nur noch in dem Schuppen. An Sonntagen aber und wenn sich Besuch angekündigte, benutzten sie die Wohnung, zogen sich aber vor dem Betreten die Schuhe aus.
Als nicht mehr ganz junges Mädchen war Johanna manchmal mit ihrem Vater mitgegangen, wenn er im angrenzenden Dorf bei einem Bauern aushalf. Dort lernte sie den Sohn des Hofbesitzers kennen. Als sie ein Kind von ihm erwartete, wollten die jungen Leute heiraten. Aber der Hofbesitzer hatte für seinen Sohn die Tochter eines Nachbarhofes vorgesehen, und Ferdinand bangte um das Wohnrecht für die Scheune, nachdem Paul ausgezogen war. Er bedrängte seine Tochter, doch einen Bergmann zu heiraten. Johanna war aber inzwischen Mutter von einem Sohn, und für eine Frau mit einem Kind war die Auswahl selbst unter Bergleuten nicht sehr groß. Schließlich heiratete sie einen verwachsenen Waschkauenwärter, der wesentlich kleiner war als sie und, durch seinen Buckel behindert, nur Putz- und Reinigungsarbeiten auf der Zeche verrichten konnte. Onkel Hugo besaß Bücher, war ein belesener Mann und erzählte wunderbare Geschichten. In der Familie hieß es, er habe diese Geschichten alle in seinem Buckel gespeichert.
Johanna war seit ihrer Heirat mit »dem Buckligen« verbittert und hat es Lisa nie verziehen, dass diese ihren Bruder Paul aus der Scheune rausgeheiratet hat und dass ihnen dadurch das Wohnrecht verloren gegangen war. Sie sprach mit Lisa nur das Notwendigste, sagte, wenn sie von ihr sprach, immer nur »die Frau« und hielt sich selbst vor Philipp mit der Verachtung für dessen Mutter nicht zurück. Lisa wiederum sprach von Johanna nur als der »Rothaarigen«, die ebenso falsch sei wie alle anderen Rothaarigen auch.
Mutters Schwestern, deren Männer und der Onkel Hännes werden auch kommen. Den Onkel Jupp, den in Frankreich gefallenen Helden der Familie, von dem Oma Josepha oft schwärmte als dem besten ihrer Kinder, hat Philipp nie kennen lernen können.
Auch Tante Grete lebte nicht mehr. Nachdem Onkel Simon die Schwindsucht bekommen hatte, nicht mehr arbeiten konnte und sie aus der Werkswohnung ausziehen mussten, hat Josepha die Familie vorübergehend bei sich aufgenommen.
Nach dem Tod ihres Mannes war Grete mit ihren zwei Töchtern nicht lange Witwe. Sie heiratete einen Werkmeister der Metallhütte. Josepha meinte, Grete habe als einzige ihrer Töchter »eine gute Partie« gemacht. Philipp erinnerte sich, dass es in der Wohnung von Tante Grete zusätzlich zur Küche ein richtiges Wohnzimmer gab, in dem auf einem kleinen, auf Rollen laufenden Tisch eine Kristallschale stand mit den schönsten Südfrüchten, bunt und wunderbar anzuschauen − und aus Wachs.
Als Grete im April 45 die Amerikaner