Anton Brauer ist seit seiner Kindheit bei der Familie Berchtold und genießt daher ganz besonderes Vertrauen. Er hat als Stallknecht beim Vater des jetzigen Grafen Berchtold begonnen, und als die ersten Automobile ins Schloss gekommen sind, hat er sich dafür sofort begeistern können – entgegen dem Wunsch seines Vaters, wie er stets betont. Seit nunmehr fünf Jahren ist er der Fahrer des Grafen, wann immer er im Schloss ist. Das ist freilich selten genug, denn seit der Graf aus St. Petersburg wieder zurück ist, verbringt er zwar mehr Zeit als zuvor zu Hause, aber die Aufgaben als Minister des Äußeren schränken seine karge Freizeit stark ein. Die meiste Zeit des Jahres kümmert sich Anton daher um die Fahrzeuge des Grafen, ohne dass sie jemand wirklich benötigen würde.
„Jawohl, Herr Graf, ganz wie Sie wünschen“, antwortet Brauer und fragt nach: „Belieben der Graf vor der Ankunft im Ministerium noch was zu essen?“ „Danke der Nachfrage“, gibt Berchtold zurück und blickt von seiner Arbeit auf. Den Hintergedanken der Frage erkennend, beugt er sich vor und fährt fort: „Sobald du mich abgesetzt hast, kannst du dir den restlichen Abend freinehmen. Ich erwarte dich morgen um zehn Minuten vor neun vor der Wohnung.“ Einen Moment innehaltend, fügt Berchtold hinzu: „Und bitte bring mir die Morgenzeitungen mit!“ Erleichtert darüber, dass der Graf seine Andeutung wieder einmal richtig verstanden hat, reduziert Brauer die Geschwindigkeit des Wagens und steuert, Unebenheiten auf der Fahrbahn geschickt ausweichend, Wien entgegen. Leopold Berchtold vertieft sich wieder in die Unterlagen für seine abendlichen Termine. Um 18 Uhr soll der Chef des Generalstabes ins Ministerium kommen. Der Gedanke daran lässt Berchtold unruhig werden. Er legt den Stift beiseite und wischt sich eine imaginäre Haarsträhne aus der Stirn. Franz Conrad von Hötzendorf ist der Erste gewesen, der auf seine Telegramme nach Wien reagiert hat. Er, Berchtold, hätte es wissen müssen. Conrad, von der Haarspitze bis zu den Fußsohlen pflichtbewusster Soldat, hat ihn in seiner umgehenden Telegrammantwort wissen lassen, dass er jederzeit für eine Aussprache verfügbar sei. Conrad hat Franz Ferdinand zu den Manövern in Bosnien begleitet und ist der Letzte gewesen, der den Erzherzog vor dessen Aufbruch nach Sarajevo am 28. Juni gesehen hat. Jetzt ist ihm natürlich daran gelegen, dass man auf die Situation angemessen reagiert. Ihm, Berchtold, wäre in dieser angespannten Lage ein einfacherer Beginn der Unterredungen lieber, aber nun heißt es, sich darauf entsprechend vorzubereiten. Die Gedanken wandern einmal mehr zum gestrigen Nachmittag.
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Nachdem er das Telegramm in seiner umfassenden Konsequenz erfasst hatte, ging er zu seiner Frau und teilte ihr die Tragödie mit. Sie fiel ihm um den Hals und beide gaben sich für einen Moment der Trauer und dem Mitleid mit den hinterbliebenen Kinder des Thronfolgerpaares hin. Sie waren gute Bekannte des Erzherzoges und seiner Gattin. Ganz anders als sein Vorgänger hatte Berchtold ein gutes Einvernehmen mit Franz Ferdinand und die beiden Damen verstanden sich vorzüglich. Leopold Berchtold hatte sich am Tag zuvor extra Zeit für seine Frau genommen, denn die Familie war trotz seiner Karriere immer der wichtigste Bestandteil seines Lebens. Seine Gattin unterstützte ihn immer, so gut sie es vermochte, und die vier Kinder waren ihrer beider ganzer Stolz. Jetzt, so erkannte er, musste er ihr klarmachen, was bevorstand. Wenn die erschütternden Nachrichten stimmten, wenn sich die Gerüchte verdichteten, wenn noch Weiteres ans Tageslicht kommen sollte, dann, das wusste er von der ersten Sekunde an, dann stand das Schicksal der Monarchie auf dem Spiel. Und diesmal, dessen war er sich sofort im Klaren, durfte er nicht zaudern.
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Der 51-Jährige blickt wieder nach vorn und atmet tief ein. Beim Gedanken an seine Frau und die Kinder erfüllt Wärme sein Herz. Nur mit ihrer Liebe und Treue, da ist er sich sicher, wird er das Bevorstehende durchhalten und Entscheidungen fällen können, von denen er jetzt schon weiß, dass sie getroffen werden müssen, auch wenn sie weitreichende Konsequenzen haben werden. Wenn er die Lage richtig einschätzt, dann wird der gestrige Moment mit seiner Frau der letzte innige für einen langen Zeitraum gewesen sein.
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Für geraume Zeit standen sie wortlos, eng umschlungen im Salon des Schlosses, und als Leopold Berchtold seiner Frau schließlich einen zarten Kuss auf die Stirn gab, um in sein Arbeitszimmer zu gehen, wo ihn seine Pflicht erwartete, flüsterte sie ihm zu: „Vergiss die Kinder nicht …“
In seinem Arbeitszimmer schrieb er dann eine Vielzahl von Telegrammen an die unterschiedlichsten Verantwortungsträger im Lande, unter anderem an den Kaiser, den neuen Thronfolger Erzherzog Karl, den Ministerpräsidenten und eben an Conrad. Dieser antwortete umgehend, sodass bereits für den folgenden Abend ein Treffen vereinbart wurde.
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Graf Berchtold macht sich Notizen über Conrad und das bevorstehende Gespräch. Als Botschafter in St. Petersburg hat Berchtold gelernt, sich auf seine Termine gewissenhaft vorzubereiten. Er hasst nichts mehr als unliebsame Überraschungen. Insofern ist das bevorstehende Gespräch mit dem Chef des Generalstabes ein leichtes Spiel, denn wenn man eines bei Conrad nicht befürchten muss, dann sind es Überraschungen. Seit seinem Amtsantritt im Jahre 1906 weiß die ganze Monarchie, wofür Conrad steht. Er hat seine Wertvorstellungen, Überlegungen und Ziele eins ums andere Mal in Denkschriften und Memoranden in aller Öffentlichkeit klargestellt. Nur mit Mühe und allerhöchsten Verfügungen hat Conrad immer wieder im Zaum gehalten werden können. „Nun, so wie es aussieht“, schlussfolgert Berchtold still in sich hinein, „hätten wir wohl besser auf ihn hören sollen …!“
„Herr Graf“, Brauer reißt Berchtold mit einer Frage aus den Gedanken, „in der Zeitung steht, dass der Attentäter ein Serbe ist. Diese Schandtat dürfen wir uns doch nicht gefallen lassen, viele sind in Aufruhr. Werden wir gegen Serbien zurückschlagen?“ Leopold Berchtold klappt die Mappe zu, sieht seinen Fahrer an und entgegnet: „Lieber Anton, Entscheidungen mit dieser Tragweite sind nicht durch Einzelpersonen zu fällen, sondern erfordern krisengerechte Abläufe in den dafür geschaffenen Gremien. Und schließlich entscheidet zuletzt Seine Majestät, unser Kaiser. Nicht alles, was in den Zeitungen steht, kann man für bare Münze nehmen und ich bitte dich, ab jetzt mit deinen Aussagen ganz besonders vorsichtig zu sein. Besonders in Gegenwart anderer Personen.“
Berchtold hält kurz inne und überlegt, wie weit er seinen Chauffeur ins Vertrauen ziehen soll. Intuitiv entscheidet er sich dagegen und fährt mit einer allgemein gehaltenen Warnung fort: „Anton, eine neuerliche Balkankrise ist bei den Machtverhältnissen, wie sie in Europa derzeit vorliegen, eine sehr gefährliche Angelegenheit.“ Der Minister blickt gespannt über den Rückspiegel in Antons Augen. Wilde Entschlossenheit und die tiefe Furcht vor möglichen Konsequenzen lassen seine Stimme erzittern, als er fortfährt: „Durch die gegenwertigen Bündnisse, die die Großmächte in Europa eingegangen sind, kann unsere Reaktion auf diese abscheuliche Tat zu einer europäischen Krise führen. Und nur Gott allein weiß, wohin das führt!“
Brauer ist verunsichert. So emotional hat er seinen Chef schon lange nicht mehr erlebt. Die weitere Fahrt bis zum Ministerium, so überlegt er, wird er wohl besser schweigen. Mittlerweile haben sie die Stadtgrenze von Wien passiert und Brauer fährt mit gedrosseltem Tempo durch die Straßen der Stadt. Die Hitze an diesem Feiertag lässt die Temperatur im Fahrzeug rasch ansteigen, sodass Berchtold im Fond das Fenster öffnet und sich durch die Zugluft ein wenig Kühlung im Wageninneren erhofft. Das Treiben auf den Straßen, in den Cafés sowie auf den Plätzen, an denen sie vorbeifahren, lässt ihn keinen Unterschied zu anderen Tagen erkennen. Nichts deutet auf die Katastrophe von Sarajevo hin. Im Gegenteil. Als sie am Prater vorbeifahren, lässt Berchtold den Wagen anhalten. Er steigt aus, geht einige Schritte um den Wagen herum und stellt verwundert fest, dass selbst hier alles seinen gewohnten Gang nimmt. Keine Spur von Trauer und Fassungslosigkeit. Die Belustigungen und Vergnügungen werden dem Feiertag entsprechend ausführlich konsumiert und das schöne Wetter trägt das seinige zur allgemeinen Heiterkeit bei. Gedankenschwer steigt der Minister wieder in den Wagen. Es ist allgemein bekannt, dass Franz Ferdinand in der Bevölkerung nicht sehr beliebt gewesen ist, aber eine derartig geringe