Wieder ertönen Rufe, Hälse werden gereckt, Menschen springen hoch, um sich einen Überblick über das Geschehen zu verschaffen. Der Mann auf der Rückbank des Autos greift sich an den Hals und versucht, das pulsierend herausströmende Blut zu stoppen. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er entsetzt seine Begleiterin an, die sich langsam nach vorne beugt und, die Hände auf den Bauch pressend, regungslos zusammensackt. Helfer eilen herbei, versuchen bei beiden die Blutungen zu stillen. Wieder erschallen Befehle, und während man den Attentäter verhaftet und vor der Lynchjustiz der aufgebrachten Menge in Sicherheit bringen muss, setzt sich der Wagen mit dem schwer verletzten Paar in Bewegung und rast davon.
In der Ferne ertönt der Glockenschlag einer Kirchturmuhr. Eine junge Mutter, die etwas abseits steht, nimmt ihren kleinen Sohn auf den Arm, damit er den Schwarm Vögel beobachten kann, der durch das plötzliche Läuten aufgeschreckt worden ist. Die Vögel ziehen steil himmelwärts, ändern abrupt ihre Richtung, stürzen wieder erdwärts, um sich endlich nach einigen Minuten Irrflug in einem Baum nahe des Konak niederzulassen. Kaum kehrt Ruhe ein, zwingen heranrasende Automobile mit heulenden Motoren den Schwarm erneut zur Flucht. Auch am Boden setzt hektisches Treiben ein. Während Männer wild gestikulierend aus den Fahrzeugen springen und rufend ins Haus hetzen, scharen sich andere um den ersten Wagen und starren hilflos auf die darin liegenden Personen. Ein Mann, aufgrund seiner Uniform als ranghoher Militärarzt zu erkennen, eilt herbei und untersucht die Verletzten. Während der Mann noch schwach atmet, kann bei der Frau nur mehr der Tod festgestellt werden. Der Sterbende und der Leichnam seiner Gattin werden ins Haus gebracht und man legt sie Seite an Seite in eine provisorisch eingerichtete Bettstatt. Fieberhaft kämpft man um das Leben jenes Mannes, der sein Land und seine Familie in die Zukunft führen soll. In der beklemmenden Atmosphäre weicht bei den zur Untätigkeit verurteilten Begleitern des hohen Paares langsam der Schock und wird durch eine alles durchdringende Fassungslosigkeit ersetzt, die unaufhaltsam die Gedanken in eine Richtung lenkt: „Es ist vermeidbar gewesen …“
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Bereits kurz nach der Abfahrt vom Bahnhof hatte es den ersten Zwischenfall an diesem Tag gegeben, den die hiesige Bevölkerung seit dem Mittelalter als Feiertag zur Befreiung von einer Unterdrückung beging. Man hatte eine Bombe gegen das Auto der Besucher geworfen. Nur der Geistesgegenwart des Mannes, eines leidenschaftlichen Jägers, war es zu verdanken, dass der Vorfall glimpflich ausgegangen war. In meisterhafter Selbstbeherrschung hatte er die Bombe, die sein Leben beenden sollte, jedoch am Verdeck des Wagens liegen blieb, zurück auf die Straße geschleudert. Die Detonation hatte zu Leichtverletzten im nachfolgenden Automobil geführt, die umgehend in ein Krankenhaus gebracht wurden. Ein geplanter Empfang im Rathaus war zwar pflichtgemäß abgehalten worden, doch danach wollte man auf Wunsch des hohen Besuchs die Verletzten besuchen. Die drängenden Apelle der um die Sicherheit besorgten Begleiter waren abgewiesen worden. Daraufhin hatte man neue Anweisungen erteilt und trotz geänderter Fahrtrouten aber keine zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen befohlen. Um 10:45 Uhr war man vom Rathaus abgefahren.
Die Bevölkerung hatte davor geduldig gewartet, die Begeisterung war erneut aufgebrandet, als man vorüberfuhr. Nichts, so sagten die Augenzeugen später aus, hätte auf weitere mögliche Attentatsversuche hingedeutet. Doch als man kurz darauf aufgrund mangelnder Ortskenntnis falsch abgebogen und, den Irrtum bemerkend, stehen geblieben war, um zurückzusetzen, war ein junger Mann aus der Menge hervorgetreten und hatte eine Pistole gegen die Personen im Wagen gerichtet. Aus kurzer Distanz war der erste Schuss erfolgt.
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Langsam erhebt sich der Arzt vom Bett, dreht sich um und blickt suchend zu den Umstehenden. Sein Blick fällt auf den ranghöchsten Offizier und Landeschef. Dessen Orden und Auszeichnungen auf der Galauniform weisen ihn als Offizier im Generalsrang aus. Sie heben und senken sich durch die hastige Atmung ihres Trägers in schnellem Rhythmus. Der Arzt tritt auf den Offizier zu und meldet mit brechender Stimme den Tod des schwer verletzten Mannes. Wieder, nun zum zweiten Mal, herrscht an diesem Sonntag atemlose Stille.
Der Offizier, Feldzeugmeister Oskar Potiorek, blickt, durch eine lange militärische Ausbildung geschult, reflexartig auf seine Uhr. In Sarajevo, am 28. Juni 1914, ist es soeben 11:10 Uhr geworden.
MONTAG, 29. JUNI, FEIERTAG „PETER UND PAUL“
„Schon wieder Verwicklungen mit Serbien!“ Der Gedanke, der immer wieder durch seinen Kopf geistert, klingt fast verzweifelt. Während er sich erschöpft auf die Rückbank des Automobils sinken lässt, fährt der Fahrer mit dem Wagen langsam die Schlossallee hinunter und biegt nach kurzem Stopp in die Straße Richtung Karlsbad. Von dort geht es weiter nach Wien, das sie nach drei Stunden Fahrzeit erreichen werden.
Graf Leopold Berchtold, der k. u. k. Minister des Äußeren, sitzt im Fond und versucht, seine Gedanken zu ordnen. Die bevorstehenden Stunden der Fahrt werden die ersten ungestörten sein, seit gestern am frühen Nachmittag die unfassbare Nachricht aus Sarajevo eingetroffen ist. Der Graf neigt seinen Kopf und blickt aus dem Fenster, lässt die Landschaft vorbeiziehen. Wieder schießt ein Gedanke durch seinen Kopf, der seinen Magen verkrampfen und die Atmung schwer werden lässt: „Ich muss mich jetzt endlich diesem Problem stellen …!?“ Obwohl er, seit er im Februar 1912 die Nachfolge des Grafen Aehrenthal als Leiter des Auswärtigen Amtes angetreten hat, schon einige schwierige Phasen bewältigt hat, scheinen nun die schwersten Tage seiner Amtsführung auf ihn zuzukommen. Der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin, die Herzogin von Hohenberg, sind in Sarajevo von einem jungen Fanatiker ermordet worden. Immer wieder zieht diese Schreckensmeldung vor seinem geistigen Auge vorbei. Beim Gedanken an die letzten Stunden spürt Graf Berchtold, wie seine Schläfen pulsieren und ihn gleichzeitig die Müdigkeit übermannt. Die unruhige Fahrt wird durch die hohe Geschwindigkeit des Wagens noch verstärkt, denn er hat seinem Fahrer Anweisung gegeben, bis spätestens 17:30 Uhr das Ministerium in Wien zu erreichen. Immer wieder schreckt er aus seinen Gedanken hoch und erinnert sich an die Bürde seines Amtes. Seine Ausbildung und die Erfahrungen der letzten Jahre in Russland haben ihn gelehrt, auf katastrophale Ereignisse dieser Art vorbereitet zu sein. Mit der Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers ist nun das bei Weitem Schlimmste eingetreten. „Dieses Mal muss ich Stärke zeigen!“ Sein Gesicht spiegelt sich fahl im Fenster des Automobils. „Ein weiteres Anzeichen politischer Schwäche kann ich mir in meiner Position nicht mehr leisten“, murmelt er vor sich hin, während er versucht, seine Gedanken zu sammeln. Er richtet sich auf, öffnet seine Aktentasche und beginnt, sich auf die bevorstehenden Treffen in Wien vorzubereiten.
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Er saß gerade im Arbeitszimmer im 2. Stock seines Schlosses in Buchlau und wollte sich auf den planmäßigen Ministerrat in der kommenden Woche vorbereiten. Die Stimmen der Kinder, die vom Garten zu ihm heraufdrangen, stellten seine Konzentrationsfähigkeit immer wieder hart auf die Probe und lassen nun im Rückblick ein Lächeln in seinem Gesicht erscheinen. Am frühen Nachmittag schließlich rang er sich dazu durch, das Fenster zu schließen, um sich voll auf seine Arbeit konzentrieren zu können. Als er gerade am Fenster stand, fiel sein Blick auf eine Staubwolke, die durch ein heranrasendes Automobil verursacht wurde. Den Blick nicht davon abwendend, spürte er Unheil heraufziehen. Durch die abgelegene Lage seines ehemals als Jagdschloss erbauten Anwesens konnte die Notwendigkeit für eine derart lebensbedrohende Geschwindigkeit nur mit ihm und seiner Funktion als Minister des Äußeren in Verbindung stehen. Als der Wagen für einen Moment hinter einer Baumgruppe verschwand, schloss er die Fenster und ging die Treppen hinunter in die Empfangshalle.
Immer wieder musste er das Telegramm lesen und zwei Mal befragte er den Überbringer zur Richtigkeit. Mit voller Wucht traf ihn die Tragweite des Gelesenen. Einen Moment lang brach eine Gedankenflut über ihn herein, ließ ihn zweifeln und ob des Bevorstehenden Ratlosigkeit aufkommen, aber er fasste sich bewundernswert schnell. Seine Erziehung, die Ausbildung und die langjährige Erfahrung im diplomatischen Korps hatten dazu geführt, dass er diesmal schnell und umsichtig handelte.
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Ruckartig