Hoyos fällt überall Personal ins Auge, das mit vielerlei Aufgaben beschäftigt ist. Auch Angehörige der Armee in unterschiedlichen Uniformen sind anwesend und wirken allesamt ausgesprochen beschäftigt sowie höchst konzentriert in der Ausführung ihrer Aufgaben. Während die beiden flinken Schrittes auf den imposanten Haupteingang des Schlosses zusteuern, bemerkt der österreichische Delegierte mit Genugtuung, dass man von ihm keine Notiz nimmt. Vorbei an Beeten mit üppigem Blumenschmuck und saftig grünen Rasenanlagen erreichen die beiden den Haupteingang, der ihnen vom zuständigen Personal so zeitgerecht geöffnet wird, dass sie für das Eintreten nicht stehen zu bleiben brauchen. Über eine prachtvolle weiße Marmortreppe geht es in den ersten Stock, dann nach links und einen schier endlosen Gang mit unzähligen Türen an beiden Seiten entlang. Unvermittelt schwenkt der Begleiter alsbald in einen Seitengang und bleibt kurz darauf vor einer eindrucksvollen Eichentür mit schweren Beschlägen stehen. „Bitte warten Sie hier einen Moment, ich werde Sie unverzüglich bei Seiner Majestät anmelden.“ Mit diesen Worten öffnet der Charge die Tür und verschließt diese von der anderen Seite, noch bevor Hoyos einen Blick hineinwerfen kann. Das Geräusch der zugeworfenen Tür hallt den Gang entlang und entschwindet nur langsam Hoyos‘ Ohren.
Kein Mensch ist zu sehen. Hoyos lauscht angestrengt. Von der anderen Seite der Türe sind Schritte zu hören, die langsam näher kommen und sich wieder entfernen. Die kurze Wartezeit nützend, ruft sich Sektionschef Hoyos, während er seine Tasche mit den Unterlagen auf den Boden stellt, nochmals seinen Auftrag in Erinnerung. In den bevorstehenden Zusammentreffen, heute mit dem deutschen Kaiser und morgen mit dem Reichskanzler, gilt es, jene Zusicherungen einzuholen, die nach Ansicht seines Chefs, Minister Berchtold, die Voraussetzung darstellen, um es überhaupt zu einem Vergeltungsschlag gegen Serbien kommen zu lassen. Zu seiner offiziellen Mission gehört auch das Überbringen der Denkschrift und des Memorandums. In Ergänzung dazu soll er in Berlin die Lage der Monarchie am Balkan mündlich ausführlich hervorheben. Im Angesicht der Tragödie von Sarajevo habe er mit größtmöglicher Bestimmtheit die Verpflichtung für Österreich-Ungarn herzuleiten, den von der serbischen Aggression aufgezwungenen Existenzkampf nunmehr sofort aufnehmen zu müssen. Um für dieses Vorhaben Rückendeckung gegenüber den Mächten zu erhalten, habe er weiters das Deutsche Reich um diplomatische Unterstützung vor allem gegenüber Italien und Rumänien, die beide höchstwahrscheinlich Kompensationsforderungen an Österreich stellen werden, zu ersuchen und unbedingt zu erhalten. Es ist natürlich kein Zufall, dass Berchtold gerade ihn für diese Mission ausgewählt hat, denn er ist einer jener engen Berater im Ministerium, die für eine harte und kraftvolle Vorgehensweise gegen Serbien eintreten. Für Hoyos sollte es daher ein Leichtes sein, in den geeigneten Momenten der bevorstehenden Verhandlungen die nötige Selbstsicherheit und die richtigen Argumente für die österreichische Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit vorzubringen.
Hoyos zupft an seinem Jackett und blickt prüfend an sich herunter. Der Schlips sitzt ordentlich, die Hose ist faltenfrei und sauber, die Schuhe glänzen. Dann zieht er beide Hemdsärmel zurecht, sodass die Manschettenknöpfe deutlich sichtbar unter den Jackettärmeln hervorblinken. Seine Gedanken kreisen noch um etwas anderes, das ihm mitgeteilt worden ist. Neben den Dokumenten und seinen offiziellen Aufträgen hat ihm Berchtold kurz vor der Abreise unter vier Augen noch eine mündliche Instruktion mitgegeben. Er hat genickt, als ihn der Minister einleitend fragte, ob er wisse, was auf dem Spiel stünde. Dann hat Berchtold hinzugefügt: „Das Ergebnis der vorgestrigen Audienz bei Seiner Majestät hat mich genau zwischen die beiden gegensätzlichen Standpunkte für unsere mögliche Reaktion auf das Attentat in Sarajevo gedrückt: Im einen Lager finden wir Conrad, Krobatin, Potiorek, Forgách und andere, die auf die schnelle und militärische Lösung drängen, und auf der anderen Seite steht Graf Tisza, der mit seinem politischen Schwergewicht alleine das Gegenstück darstellt und den Kaiser zurückhält.“ Hoyos erinnert sich, wie Berchtold bei diesen Worten den Blick nach unten richtete und ernüchtert den Kopf schüttelte. Dann hat der Minister den Kopf wieder gehoben und ihm mit ungewohnter Härte in der Stimme zugeraunt: „Wir beide wissen, dass Sie der Gruppe um Conrad zuzuzählen sind, und ich tendiere ebenfalls in diese Richtung. Aber ohne einen Rückhalt aus Berlin können Sie nicht auf mich zählen. Dann wird es keinen Feldzug gegen Serbien geben. Ist das klar, Herr Sektionschef?“ Wieder hat Hoyos genickt. „Wenn Sie mich also auf Ihrer Seite wissen wollen, um beim Kaiser das nötige politische Gewicht gegen Tisza zustande zu bringen, bringen Sie mir eine uneingeschränkte Unterstützungszusage aus Berlin.“
Hoyos ist über diese ungewöhnliche Offenheit und Direktheit des Ministers noch immer erstaunt. Wieder greift er nach seinem Schlips, um diesen ein weiteres Mal zurechtzurücken. In diesem Moment vernimmt Hoyos wieder Schritte. Dieses Mal wird die Tür geöffnet und der Begleiter bittet ihn weiterzukommen. Erneut folgen sie einem Gang, passieren etliche kleinere Zimmer und erreichen endlich den Wartesalon des Kaisers. Gemeinsam mit Mitarbeitern und weiteren Gästen wird Alexander Hoyos in das kaiserliche Speisezimmer geführt und an einen Stuhl am festlich gedeckten Esstisch verwiesen. Bedächtig geht Hoyos auf diesen zu und bleibt dahinter stehen. Sekunden später erscheint Wilhelm II., deutscher Kaiser und König von Preußen, mit energischem Schritt, gefolgt von einer Handvoll Offizieren. Nacheinander begrüßt der Kaiser seine Gäste, blickt jedem dabei fest in die Augen und wechselt einige freundliche Worte. Auch den österreichischen Gast begrüßt er auf diese Weise herzlich, seine behinderte linke Hand stets hinter dem Rücken haltend. Nach einigen allgemeinen Bemerkungen zur Fahrt und dem Befinden bittet der Kaiser zu Tisch und setzt sich. Hoyos und die anderen Gäste nehmen nach den höfischen Regeln erst Platz, nachdem der Kaiser das Zeichen dafür gegeben hat.
Kaum, dass die Plätze eingenommen sind, kommt Wilhelm zur Sache und wendet sich an den Gast aus Wien: „Sie haben Dokumente für mich mitgebracht?“ „Jawohl, Euer Majestät“, entgegnet Hoyos und fährt, nachdem der Kaiser einen fragend Blick des Wieners aufmunternd beantwortet hat, fort: „Es handelt sich hierbei zum einen um ein Memorandum, welches die gegenwärtige politische Lage der Donaumonarchie beschreibt und mit den Erkenntnissen aus den jüngsten schrecklichen Vorfällen in Sarajevo ergänzt wurde, und zum anderen um ein Allerhöchstes Handschreiben Seiner Majestät Kaiser Franz Josephs, welches direkt an Euer Majestät gerichtet ist.“ Hoyos öffnet seine Aktentasche, zieht die beiden Schriftstücke heraus und reicht sie dem ihm nächststehenden Adjutanten. Dieser übernimmt sie mit einem Kopfnicken, geht um den Tisch herum und übergibt sie mit einer tiefen Verbeugung dem Kaiser. Ohne zu zögern öffnet Wilhelm die Umschläge beider Dokumente und beginnt, während die Dienerschaft die Speisen ins Zimmer trägt, diese hastig zu überfliegen. Servierwägen werden gebracht, wobei die darauf befindlichen Speisen durch glänzende Abdeckungen den Blicken der Gäste entzogen sind. Anderes Personal trägt Schalen mit heißem Wasser an die Tische und stellt diese jeweils zwischen zwei der Gäste. Die Vorbereitungen enden damit, dass hinter jedem Gast ein Diener mit einem Tablett wartet. Auf ein Zeichen Wilhelms treten die Diener in vollkommener Bewegungsharmonie an den Tisch und setzen die Speisenteller unmittelbar vor den Gästen ab. Zuletzt wird die Abdeckung auf den Tellern entfernt und der Blick auf die Speisen freigegeben. Sofort steigt der warme Duft der herrlichen Vielfalt den erwartungsvoll am Tisch Sitzenden in die Nasen.
Währenddessen ist Wilhelm aufgestanden und hat seine Gäste ermahnt, sich nicht von den Köstlichkeiten abhalten zu lassen, während er seine Aufmerksamkeit völlig auf die Dokumente zu richten gedenke. Jetzt geht er mit kleinen, vorsichtigen Schritten im Hintergrund des Speisesaals auf und ab und vertieft sich vollständig auf die beiden Schriftstücke, die er kontinuierlich umblätternd mit großem Interesse liest. Ab und an bleibt er stehen, um sich besser auf die Formulierungen konzentrieren zu können. Hoyos, ein wenig orientierungslos ob dieser unorthodoxen Vorgehensweise, blickt Hilfe suchend um sich. Als er sieht, dass der höchstrangige