Ich gebe wiederum eine tabellarische Übersicht über die Verteilung der Motive in den oben besprochenen Quellen:
Die ziemlich häufigen Stellen, die dem von Axel OLRIK als „Fostbrodersituation“ charakterisierten Handlungstyp angehören,87 werden, wenn sie außer dieser ganz bestimmten Struktur über die Institution des fóstbrœðralag sonst weiter nichts aussagen, im Zusammenhang mit der friedenstiftenden und friedenbestärkenden Funktion des fóstbrœðralag angeführt werden.88
Es fällt auf, daß die Blutsbrüderschaft in den Rechtsbüchern kein einziges Mal erwähnt wird. Vielleicht wird der Grund dafür in ihrem frühzeitigen verschwinden zu suchen sein oder auch nur in der „Vielgestaltigkeit“ des Verhältnisses, wie Konrad MAURER meinte.89 Vielleicht ist die Ursache dafür jedoch darin zu suchen, daß diese Brüderschaft ihrem Wesen nach ursprünglich einem Bereich der vorchristlichen skandinavischen Gesellschaftsordnung angehörte, der außerhalb von Sippe und Familie lag, diesen gewissermaßen diametral entgegengesetzt, und der dementsprechend auch von den Rechtsbüchern nicht erfaßt wurde.90
Nur im § 239 des Gulathingrechtes werden „Eidbrüder“ erwähnt, und zwar wird dort ihre rechtliche Gleichstellung mit den Ziehbrüdern (fóstbrœðr) festgelegt:
Nu ero eiðbrœðr. Þeirra tecr hvárr. a œðrum. xii.
aura af viganda. Nu ero fóstbrœðr tveir fœddir upp
saman. oc hava druckit bader speina einn. Þa tecr hvarr
a œðrum .xii. aura af viganda.91
Neben der Aussage über die Höhe der Buße ist diese Stelle ein besonders deutlicher Beleg für die Bedeutungsambivalenz des Wortes „fóstbroðir“, die offenbar auch zu dieser Zeit schon zu Mißverständnissen Anlaß geben konnte.92
Weiters gibt es einige Runeninschriften, die Brüderverhältnisse zwischen einer größeren Anzahl von Beteiligten erwähnen. Daß damit „Bundbrüder“ und nicht natürliche Brüder gemeint waren, ist in einigen Fällen nicht zu bezweifeln. Als Belegen von „Brüder“bünden kommt diesen Inschriften größte Bedeutung zu, wenngleich in keinem einzigen Fall gesagt wird, daß das Verbrüderungsritual eine Blutmischung umfaßt habe.
Die wichtigste dieser Inschriften ist die des Runensteins von Rök. Aus ihr ist zu entnehmen, daß 20 Könige, die auf Seeland wohnten, in 4 Gruppen von je 5 „Brüdern“ geteilt waren. Die 4 Väter dieser vier Brüderkreise sollen ebenfalls „Brüder“ gewesen sein.93
Die Inschriften auf den Runensteinen 2 und 3 von Hällestad beziehen sich ebenfalls auf eine Gefolgschaft von „Brüdern“, einen kriegerischen „Brüder“bund.
Der Turinge-Stein in Södermanland scheint auf eine ebensolche Brüderschaftsorganisation zurückzuweisen.
Im Zusammenhang mit der Frage nach der Existenz und Organisation vorchristlicher skandinavischer Brüderbünde werde ich auf die hier nur kurz erwähnten Runeninschriften genauer eingehen.94
Wie bereits mehrfach angedeutet wurde, gab es neben dem Terminus „fóstbroðir“ auch noch die Bezeichnungen „eiðbroðir“ und „svarabroðir“. Was ist unter diesen Ausdrücken zu verstehen und wie verhalten sie sich zum Terminus „fóstbroðir“, der als einziger von ihnen zur Bezeichnung der Verbrüderung durch Blutmischung verwendet wurde?
Die Fornaldarsögur machen aber auch zwischen dem „fóstbrœðralag“, mit dem man offenbar nur mehr ziemlich unklare Vorstellungen verband, und dem „félag“95 keinen ersichtlichen Unterschied.
Eidbrüderschaft und Schwurbrüderschaft, zwischen denen sich kein Bedeutungsunterschied feststellen läßt,96 wurden im allgemeinen als spätere Entwicklungsstufen des fóstbrœðralag angesehen,97 die sich unter einem allmählichen Zurücktreten der Blutmischung und unter Verlegung des Schwergewichtes auf die Eidesleistung von der urtümlicheren Blutsbrüderschaft abzugrenzen begonnen hatten. Dies ist zweifellos richtig, denn wenn „Brüderschaft schwören“ („sveria i brœðralag“) von der Eingehung eines Erbvertrages gesagt werden konnte, den der König von Norwegen mit dem König von Dänemark im Jahre 1038 schloß, so ist in diesem konkreten Fall gewiß nicht mehr an das alte Ritual des fóstbrœðralag zu denken.98
Aufschlußreich für die späte Form der Brüderschaft sind zwei Stellen in der Þiðreks saga: die Schwurbrüderschaft wird in diesem Fall als „felagscap“ bezeichnet, und sie wird dadurch geschlossen, daß die sich Verbrüdernden ihre Hände ineinanderlegen.99
Es ist nicht möglich, den genauen Zeitpunkt dieser Umwandlung festzulegen. Wahrscheinlich war die Umstrukturierung der nordischen Bundbrüderschaft um die Jahrtausendwende schon ziemlich weit fortgeschritten.100
Die Frage, ob und wieweit die mittelalterlichen Gilden eine direkte Fortsetzung des vorchristlichen fóstbrœðralag darstellen, hat als Kernfrage zum Ursprung des Gildewesens eine große Zahl von Erörterungen dieses Problemkreises hervorgerufen. Mit der Existenz von Brüderbünden auf der Grundlage des fóstbrœðralag wie mit altgermanischen Männerbünden überhaupt wurde dabei allerdings nicht gerechnet, so daß auch Max PAPPENHEIM, der in seiner Untersuchung den altdänischen Schutzgilden den unmittelbaren Zusammenhang zwischen fóstbrœðralag und Gilde betonte, sich von vornherein zu der Einschränkung genötigt sah, daß die Blutsbrüderschaft in keinem Fall die einzige Quelle des Gildewesens gewesen sein könne.101
Ein Vergleich mit der Blutsbrüderschaft der Kelten und Südslawen zeigt, daß auch dort die Verbrüderung durch Blutmischung allmählich durch andere Verbrüderungsarten ersetzt wurde – analog der Entwicklung in Skandinavien.
Eine typische Stelle findet sich in den irischen Annalen des 13. Jahrhunderts. In den „Annals of Loch Cé“,102 den „Annals of Ulster“103 und einigen anderen Quellen wird zum Jahr 1277 folgendes berichtet: Obwohl er mit ihm Blutsbrüderschaft geschlossen hatte, machte der Sohn des Earl of Clare, Brian Ruadh O‘ Brian, den König von Munster auf verräterische Weise zu seinem Gefangenen und ließ ihn von Pferden zerreißen. Die Blutsbrüderschaft hatten sie sowohl durch Vermischen des Blutes als auch durch Schwören auf Reliquien geschlossen.104 Im 13. Jh. wurde das Schwören auf Reliquien als eine ziemlich junge Form eines Bundes in Irland allgemein üblich105 und trat funktionsmäßig an die Stelle der ehemaligen Blutsbrüderschaft.
In Serbien, Montenegro, Albanien und Teilen Bulgariens hatte sich die Sitte, Wahlbruderschaft durch Vermischen des Blutes einzugehen, noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jh. hinein erhalten;106 damals war sie im Aussterben begriffen. Andere Formen der Wahlbruderschaft sind nach dem Verschwinden der Blutmischung bis in die Gegenwart lebendig geblieben.107
Außer diesem diachronen Aspekt der Weiterentwicklung des fóstbrœðralag ist auch die Frage ins Auge zu fassen, inwieweit es zu einer Zeit, in der das nordgermanische Verbrüderungsritual noch eine tatsächliche Blutmischung umfaßte, neben diesem und zugleich mit ihm andere Formen institutionalisierter Verbrüderung gab, d. h., ob nicht die Eidbrüderschaft bzw. Schwurbrüderschaft zugleich mit der Blutsbrüderschaft existiert haben können.
Bei den Südslawen hat es – abgesehen von der Vielfalt der Anlässe, die zur Wahlbrüderschaft führen konnten – mehrere „Stufen“ des Pobratimstvo gegeben, die zueinander in einem gewissermaßen komplementären Verhältnis standen.
In Montenegro sah dies folgendermaßen aus:108
MALO PORATIMSTVO, „die kleine Bruderschaft“, wurde zwischen Freunden, die einander in Zukunft brüderlich helfen wollten, durch dreimaligen Kuß und den Austausch von Geschenken