Das Universum ist kein starres Gebilde, sondern in steter Bewegung. Mit der Schöpfung entstand ein weiteres Phänomen: die Zeit. Sie wird durch die Rune Raidho ausgedrückt. Deren Urbedeutung ist „Reiten“: Dabei sind alle rhythmischen Vorgänge gemeint, jedes Auf und Ab, Hin und Her, Hoch und Nieder… immer wieder, in ständiger Wiederholung. Die ganze natürliche Welt besteht aus Zyklen – großen und kleinen, gewaltigen und langsamen wie mikroskopischen und urschnellen samt aller Tempi und Dimensionen dazwischen. Nichts von uns Geschaffenes und Konstruiertes ist frei oder unabhängig davon – zumal unsere Konstruktionen eigene zyklische Verläufe bilden, schon von sich aus (ob wir das beabsichtigen, erkennen oder auch nicht): Ein Haus soll vielleicht für die Ewigkeit dastehen, wird aber früher oder später zur Ruine und deren Reste gehen irgendwann wieder in der Umgebung auf, aus der sie entstanden. Wir selber würden gerne ewig leben, altern aber alle und sterben: gehen genauso wieder auf – und entstehen aufs Neue so wie das Haus. Es ist niemals dasselbe Haus, nie wieder dasselbe Individuum. Auch für dieses Phänomen gibt es eine Rune – zu der kommen wir gleich. Vorher soll noch eine andere wichtige thematisiert werden!
Kenaz – die Fackel. Mit ihr gestalten wir die Welt, verändern unsere Umgebung. Dazu braucht es Kompetenzen. Die Rune repräsentiert das Können – vom spielerischen Basteln und Ausprobieren über alle Arten handwerklicher Fertigkeiten und deren Spezialisierung bis hin zum Erschaffen jener Werke, deren Ziel und Wirkung vollständig losgelöst ist von jedem augenscheinlichen praktischen Nutzen: Kunst. Jeder echte Schaffensdrang ist mit Leidenschaft verbunden und so lässt sich die erotische (gleich welcher Neigung und Ausrichtung) getrost mit dazuzählen. Gestalterische Obsessionen und sexuelle Sehnsüchte nähren sich aus ein- und demselben Feuer (eine Erkenntnis, für die es der Rune nicht bedürfte – aber sie bestätigt sie… und lässt erahnen, dass manche heutigen Weisheiten schon früher einmal bekannt und in der Welt gewesen sein müssen…). Die Kräfte hinter dieser Rune sind, wie ich es erlebe, Freyja und die Zwerge: die Große für die größte Macht der Welt, die Kleinen für die größten Geschicklichkeiten. Kunst schafft – so oder so – immer eine Abbildung ihrer Umgebung und so lässt sich auch die nächste Rune in gewisser Weise als das Ergebnis einer Kenaz-Rune sehen, die sich selbst gespiegelt hat.
Gebo repräsentiert die vollendete Harmonie – astrophysikalisch gesehen den Energieerhaltungssatz (die Energiesumme im Universum bleibt immer gleich) – und aus magischer Sicht dein persönliches Talent, deine Gaben (es können mehr als eine sein). Mindestens eine hat jedes Geschöpf von Geburt an, es ist das persönliche Göttergeschenk: der Schatz, den wir im Laufe unseres Lebens bergen sollten. Natürlich besser früher als später – aber besser spät als nie. Die persönliche Gabe ist das, was uns einzigartig macht als Individuen: viel mehr und bedeutsamer als die Form der Nase oder andere Äußerlichkeiten. Die Gabe ist das, wofür wir jeweils geboren wurden und unterscheidet sich meistens beträchtlich von allem, was wir uns beibringen ließen, wofür wir angeblich geboren seien. Das erschwert die Lage, aber ändert nichts am Umstand: Es gilt, die eigene Gabe zu finden, anzuerkennen – und einzuüben. Talent allein ist nämlich keine Fähigkeit oder gar Leistung, sowenig ein Blatt Papier und ein Bleistift ein Gedicht sind, eine Ackerfurche eine Mahlzeit wäre oder eine anmutig geratene Menschengestalt bereits allein wegen ihrer Ansehnlichkeit ein Auto reparieren, eine Theaterrolle verkörpern oder in Rekordzeit eine Strecke im Wasser zurücklegen könnte. Das alles muss gegebenenfalls gelernt werden – und hat mit den Äußerlichkeiten der Person nicht nennenswert zu tun. Die Rune Gebo markiert auch die Vollendung des Schöpfungsaktes – die Übergabe des Werkstücks, ließe sich sagen: den Moment, in dem es so weit fertiggestellt ist, dass es, so wie es geriet und entstand, nicht mehr verbessert werden kann.
Doch es bedarf noch einer weiteren Kraft, den Akt wirklich abzuschließen, seine Vollendung gewissermaßen zu krönen. Dies geschieht durch die Freude, ausgedrückt durch die Rune Wunjo. Sie repräsentiert die Verbundenheit: sowohl mit dem Geschaffenen als auch der daran Beteiligten untereinander. Freude, Wonne, Glück, Verbundenheit: Das ist das Ziel des ganzen – ja: jeden – Schöpfungsprozesses!
KAPITEL VI
Betrachtungen zur Rune Fehu: von beweglicher Habe zur Abstraktion persönlichen Potentials
DAS LIEBE VIEH
Widmen wir uns Fehu, der ersten Rune im Älteren Futhark, die damit auch die erste Achterreihe eröffnet. Am Anfang war das Vieh. Das typische nord- und mitteleuropäische Hausrind vor rund zweitausend Jahren dürfen wir uns getrost als höchstens halb so groß vorstellen wie das arme Boxenrindvieh von heute und die Euter der Kühe waren natürlich winzig: noch nicht überzüchtet – weder das Tier noch sein Gehänge. Aber was soll die Viecherei?
Hausvieh war Tauschmittel. Innerhalb einer Stammesgemeinschaft brauchte zwar vermutlich kein Mensch irgendwelche persönlichen Zahlungsmittel, aber die Sippen und Stämme untereinander mögen mit Vieh gehandelt haben. Rinder waren „bewegliche Habe“ – wer viel davon hatte, war reich. Daher wird Fehu heute gern die Bedeutung „Geld“ zugeschrieben. Was durchaus richtig ist. Es greift nur ein bisschen kurz. Geld ist – mal wieder – nicht alles. Dein ganzes Vermögen kann gemeint sein: das über Finanzen und Besitz hinausreichende oder sogar… etwas davon Unabhängiges! Sieh es mal so: Was vermagst du? Kann „Vermögen“ auch heutzutage nicht viel mehr sein – oder noch etwas ganz anderes – als ausschließlich finanzielle oder materielle Habe? Kenntnisse, Erfahrungen, anwendbare Fertigkeiten – das alles gilt, gehört dazu! Fehu ist das jeweils zur Verfügung stehende Potential. Woraus immer das bestehen mag! Was finanzielle Möglichkeiten mit einschließt. Aber es beschränkt sich nicht auf sie.
Was immer geschaffen werden soll: Es muss Energie hineingesteckt werden – ob Geld, Arbeitskraft, Hirnschmalz, sonstiges Engagement oder eine Mischung von alledem. Derartiges Potential nenne ich Fehu. Die Bedeutung ergibt sich aus dem Zusammenhang: Ein Rindvieh, das irgendwo auf der Weide grast, hat für sich genommen mit keiner Rune was zu tun – erst wenn es als Tauschwert, Investitionskapital oder Vermögen eingesetzt wird, würde ich Fehu dazu sagen. Und das kann selbstverständlich auch jederzeit etwas anderes sein als Vieh.
Woraus besteht der Energieeinsatz für deine Unternehmung? Was braucht die zum Gelingen – oder um überhaupt in die Gänge zu kommen?
Die erste Runen-Achterreihe veranschaulicht Schöpfungsprozesse, zeigt typische Verläufe des Werdens, Entstehens, Erschaffens. Sie beginnt mit der Potentialrune Fehu und endet mit Wunjo, der Wonnerune. Je mehr Energie du am Anfang hineinbutterst, desto größer ist am Ende die Freude – wenn alles klappt. Von den acht exemplarischen Stationen solchen