Germanische Runensysteme sind zwischen ein- und (fast) zweitausend Jahre alte Hinterlassenschaften untergegangener Kulturen, die kein Interesse daran hatten, ihrer Nachwelt schriftliche Erklärungen zu hinterlassen. Daher sind historische Runensysteme umstandshalber nur lückenhaft und oberflächlich entschlüsselt – und das ist gut so: Es lässt Raum für Interpretationen und Weiterentwicklungen. Was ich für sinnvoll halte, solange wir wissen (und zugeben), was wir tun und warum. Es besteht nicht die geringste Notwendigkeit, eine stimmige Anwendung von Runen damit begründen zu wollen, dass sie bereits aus der Entstehungszeit dieser Zeichen stamme oder bei irgendwelchen Kulturen, die wir heute „germanisch“ nennen, schon oder noch üblich gewesen sei. Das ist schlichtweg nicht möglich – eine solche Behauptung ist immer unseriös. Wer eine germanische Kultur leben möchte, die sich nicht in Reenactment-Übungen und Freizeitkult erschöpft, sondern rund um die Uhr und ums Jahr, mit einer gewissen spirituellen Ernsthaftigkeit, heutigen Alltagsanforderungen genügen soll und ebenso die Aufgabe hat, das eigene Leben zu bereichern und das soziale Miteinander zu erleichtern, muss sich eine solche Kultur eben schaffen: sie selbst entwickeln.
Genau dafür liefern die Runen des Älteren Futhark ein mögliches Modell.
Ohne dass ein solches bereits bei ihrer Entstehung beabsichtigt gewesen sein muss, lassen sie sich in geradezu verblüffender Weise so auslegen und anwenden. Dabei ist es wichtig, unterscheiden zu können, was sich seit der historischen Verwendung dieses Runensystems alles geändert hat und was nicht. Die Lebensverhältnisse sind längst völlig andere als damals – gleich geblieben jedoch, so will mir scheinen, sind die Menschen in ihren grundsätzlichen Bedürfnissen, Wünschen, Nöten, Befangenheiten und Möglichkeiten. Natürlich ist der Alltag in unserer hochtechnisierten und extrem komplexen Zivilisation, ihrer globalen Vernetzung zumal, nicht vergleichbar mit den Lebensanforderungen unmittelbar wetterabhängiger Kleingemeinschaften zwischen Wald und Sumpf. Die Runen bieten aber auch gar keine Anleitungen zum Bau von Langhäusern oder dem Betrieb von Ochsenkarren. Sie erzählen vielmehr etwas über soziales Zusammenleben. Ganz konkret: über den sinnvollen Verlauf projektierter Unternehmungen, über das Erkennen und Weiterentwickeln des eigenen Charakters sowie über die grundsätzlichen Bedingungen, wo und wie beides stattfindet. Alle drei Beschreibungsstränge sind einerseits sehr allgemein, andererseits aber exemplarisch genau gehalten, so dass sie sich ohne weiteres auf unsere heutigen Lebensverhältnisse übertragen lassen. Wie gesagt: Sie enthalten keine Hinweise zum Ausfüllen von Steuererklärungen, Reparieren von Kühlschränken, Pflegen von Bronzeäxten oder Wiederherstellen von Festplatteninhalten. Runenweisheit ist basal: Es geht ums Wachsen und Werden, ums Erkennen und Sinnfinden – und ums Verantworten der eigenen Taten und Unterlassungen. Das gilt im Ochsenkarren wie in Straßenbahn und Flugzeug – auf all unseren Wegen, ob asphaltiert und bereits eingefahren oder nicht. Und auch, wenn wir heute statt Messer, Ahle und Talisman eher ein Smartphone, den (hoffentlich richtigen) USB-Stick und, äh, vielleicht auch einen Talisman bei uns tragen.
KAPITEL V
Überblick über Freyrs Ætt: die acht Stationen des Entstehens, Werdens und Vollendens
DIE ERSTE ACHT: FREYRS SCHÖPFUNG
Am Anfang steht die Möglichkeit. Was vermagst du, über was verfügst du – frei und uneingeschränkt? Von nichts kommt nichts. Aber Kleinvieh macht auch Mist. Was ist dein Potential? Was setzt du davon ein und wofür? Was und wie viel brauchst du und auf welche Weise gehst du vor?
Hier, mit der Rune Fehu, beginnt dein Universum der Schöpfung. Sie entsteht aus dem, was du hineingibst in den Prozess. So war das mit dem Anfang des Weltalls, so ist das mit jedem weiteren Projekt, ob Großbauanlage, Gedankengebäude oder Bastelarbeit. Acht Stationen geben die Runen vor, hier ist die erste.
Die Urbedeutung von Fehu ist Vieh. Hausrinder waren gemeint: Tiere, die sich treiben lassen, die deinen (oder unseren) Wohlstand darstellen. Fehu kann alles bedeuten, was mit deinem Potential zu tun hat und seinen Möglichkeiten. Freyr ist einer der Großen, der die Schöpfung hütet. Er ist vermählt mit Gjerda, jener Riesin, die wir Menschen als Vegetation erkennen: Jeden Frühling legt sie sich erneut auf die Erde mit ihrem Leib, der blüht, glänzt und schillert in den erstaunlichsten Farben. Ihr Göttergatte Freyr steuert und bewacht auch die Wunder der Fortpflanzung (doch dafür gibt es eine Extrarune, die erst später dran ist). Freyr kann Dinge fast aus dem Nichts entstehen lassen – so scheint es zumindest. Er hat ein kleines Ding in seiner Tasche. Faltet er es auf, wird ein Boot daraus – und dieses Faltboot enthält die ganze Götterwelt. Er war, das vermute ich zumindest, am Urknall beteiligt: damit etwas daraus werden konnte. Sonst hätte es nur geknallt – und das wäre es dann gewesen. Wie ein Silvesterböller – schön und ah, aber sogleich vorbei. Dank Freyrs Kunst ist aber das Universum daraus entstanden, wie wir es kennen – und die Wissenschaft hat errechnet, dass der ganze Akt nur den Bruchteil einer Nanosekunde gedauert haben soll… (Jede Kultur braucht – und ersinnt – ihre Mythen). Aber Kunststück – die Zeit war ja noch jung. Vor dem Urknall hat es gar keine gegeben.
Und in dem Moment, da die Schöpfung enstand, wurde die Möglichkeit zur Materie: hat sich manifestiert. Die Rune, die das verbildlicht, ist Uruz. Ihre Urbedeutung ist Auerochs. Das war mal das größte Landtier Eurasiens: schwarz, schön, schlank und wild, riesig und kraftvoll. Uruz symbolisiert geballte (Lebens-)Kraft: die jeglicher Materie – vom nanowinzigen Nukleus, der im Schöpfungsakt (oder Urknall – auf den kommen wir gleich noch einmal zurück) zur ganzen Welt wurde (über die vorstellbare hinaus; auch wenn das allein schon die individuelle Vorstellungskraft sprengt) über jedes einzelne Ding oder Lebewesen bis hin zu dir: deinem Leib, deinem Körper, dem einzigen Zuhause deiner Seele (zumindest in diesem Leben). Und auch jeder andere Körper jedes anderen Lebewesens, ob klein oder groß, ob dick oder dünn, mit oder ohne was dran, drin, drauf – enthält diese Kraft, besteht in gewisser Weise aus ihr.
Wissenschaftlich betrachtet, mag es vielleicht die Kraft der Atome sein. Der Ur-Nukleus war wahrscheinlich kein Atom in heutigem Sinne, aber er flog auseinander, schlagartig. Konnte seine Kraft nicht mehr halten und musste sich entladen, zu ungeheurer Größe aufblähen und ausbreiten. Das ist, wofür die Rune Thurisaz steht. Ihre Urbedeutung ist Riese: im Sinne riesenhafter Naturgewalt. Sich entladendes Chaos. Dessen Resultat: die Ausbreitung von Materie. Das Chaos ist ein wichtiges Moment im Schöpfungsprozess. Denn erst die wilde Ausbreitung schafft die Voraussetzung dafür, das Verstreute und Umhergeworfene sortieren zu können, zu etwas Sinnvollem zusammenzufügen.
Das Zeichen, unter dem dies erfolgt, ist Ansuz: die Rune der göttlichen Ordnung und der Kommunikation, ja, des Geistes überhaupt. Aus unserem eigenen Leben wissen wir: Spätestens dort, wo es etwas zu sortieren gilt,