Das Lied der Eibe. Duke Meyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Duke Meyer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Эзотерика
Год издания: 0
isbn: 9783964260109
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hat Folgen. Die Zivilisiertheit einer Gesellschaft lässt sich daran messen, wie wenig Gewalt zu ihrem Erhalt und ihrer Weiterentwicklung aufgewendet wird (je weniger Gewalt ausgeübt werden muss, umso zivilisierter ist das Gemeinwesen) und welchen Einfluss auf diese Gewalt die von ihr Betroffenen nehmen können (je größer und breiter gestreut dieser Einfluss ist, desto demokratischer, hierarchieflacher und gerechter geht es in der betreffenden Gesellschaft zu).

      Laguz bedeutet sowohl „Lauch“ als auch „fließendes Wasser“: Pflanzliche Nahrung und Süßwasser sind zweifellos Lebensgrundlagen, ohne die gar nichts geht. Inguz, das Ei, verweist darauf, dass zumindest das Gemüse sich fortpflanzen muss, kann und darf, damit es auch morgen noch etwas zu essen gibt. Die Rune symbolisiert das Lebensprinzip der Fortpflanzung und die Wunder der Genetik. Von beiden Runen lässt sich eine Menge ableiten, was an dieser Stelle noch kein Anstoß für Debatten zu sein braucht.

      Die Reihenfolge der letzten beiden Runen ist strittig: Auf den wenigen historischen Funden, die ein vollständiges Älteres Futhark zeigen, steht manchmal Othala, manchmal Dagaz am Ende. Im zeitgenössischen Gebrauch hat sich Othala als Endrune durchgesetzt. Ich bevorzuge inzwischen Dagaz – richtig darf beides genannt werden.

      Othala ist sowohl Verwurzelung im Sinne einer „Heimfindung“ als auch Bewusstsein dafür, welcher Weg dich an diesen Ort gebracht hat und welche Ereignisse dich dabei prägten. Dagaz symbolisiert den ewigen Wandel: die größte universale Konstante überhaupt. Auch das trauteste Heim, der vollendetste Weg, die tiefste und hartnäckigste Wurzel fällt irgendwann wieder der Vergänglichkeit anheim, um abermals etwas Neues entstehen zu lassen! So schließt sich der Kreis und erlangt erst darüber seine Dauerhaftigkeit (wie so vieles Natürliche ist auch dies in Wirklichkeit eine Spirale…). Wege mögen enden, aber was auch immer vergeht, schafft nur Platz für Weiteres. Das ist Ewigkeit: dieses gewaltige Kreiseln in stetiger Weiterbewegung. Nicht eine Strecke von A nach B und das Verharren an einem Endpunkt. So gern wir das oft hätten. Die Welt ist größer als unser Wille. Auch er – und gerade er – wird aber erst durch ihre Größe und Wunder ermöglicht. Glück – über die persönliche Zufriedenheit hinaus (vielleicht ist das die Weisheit, die ich meine) – ist, wie ich‘s bis jetzt übersehe oder erahne, eine Mischung aus Macht, der Entfaltung meiner persönlichen Möglichkeiten und der Einsicht um ihre Grenzen. Das ist kein „Mittelweg“, im Gegenteil. Denn mit „Grenzen“ meine ich nicht die menschengemachten, sondern die kosmischen. Ihnen beuge ich mich, diskussionslos und demütig. Was leicht fällt: So viel weiter sind sie als jene, die Menschen mir steckten, stecken wollten, zu oft stecken konnten. Aber Letzteres zu ändern, ist meine Macht. Eine, die von Geburt an in mir lag. Ich musste sie nur finden. Und erkennen. Und einüben. Und auszuüben anfangen. Versuch und Irrtum. „Nur“ heißt nicht, dass es einfach gewesen oder mir leicht gefallen wäre… Ich hatte Hilfe – oft unerwartete – und, allen Rückschlägen zum Trotz, immer wieder erstaunliches Glück. Das alles zu entdecken – und dem nicht nur ausgeliefert zu sein, sondern es mit beeinflussen zu lernen –, halfen mir Runen; damit weiterzukommen, auch. Viel weiter, als ich je gedacht hatte… Deshalb erzähle ich das alles. Vielleicht hilft es ja auch dir.

      So beschreiben mir die Runen des Älteren Futhark die ganze Welt. Sie zeichnen eine Art Landkarte – genauer: viele Arten von Landkarten, je nach Bedarf – und nehmen mich gleich mit. Sie geben nichts vor, was ich zu tun oder zu lassen hätte. Sie nehmen mir keine Entscheidung ab, aber sie ermöglichen mir, besser zu erkennen, warum ich welche treffe und welche ich wagen sollte, wenn ich mich denn schon (oder endlich) traute. Oder so ähnlich. Womit ich sagen will, dass es keine Patentlösungen braucht. Wo immer mir solche angeboten werden, misstraue ich ihnen zutiefst und, wie alle Erfahrung lehrt, zu Recht. Was du nicht selbst machst und verantwortest, macht meist unfrei. Ich mache eine Menge Sachen nicht selber, weil ich sie nicht kann oder mag und bin mir der Folgen bewusst. Niemand kann oder muss alles können. Aber Prioritäten setzen: Das lohnt. Was du willst, machst, nehmen und geben kannst. Es gibt keinen „Alles-wird-besser-Knopf“, so wenig wie endgültige Gewissheit über irgendwas. Aber Haltegriffe – die gibt‘s. Wo sie mir fehlen, sehe ich zu, dass ich mir welche schaffe. Daran entlanghangeln – das ist das Abenteuer. Ich kenne schlechtere.

      Runenstein auf Gotland, Schweden

       KAPITEL III

       Fiktive Erinnerungen eines ebensolchen chattischen Kriegers aus dem 6. Jh.

       AUS DEM VERGESSEN

      Es dunkelt. Aber das Mondlicht sollte reichen: Fast voll steht Manis Nachtgesicht am Himmel, knapp über den Buchen, die jetzt nur noch Schattenrisse sind, schwarz und stumm. Ich bin nicht weit vom Lager, aber entweder sind sie alle still geworden dort – oder etwas in mir blendet die Geräusche aus, ich kann sie nicht mehr wahrnehmen. Stattdessen höre ich Unken aus Südwest, da ist wohl ein Bach, und das Aufflattern einer Ralle, aber jetzt ist auch das vorbei. Nur der Wind pfeift und klatscht mir die nassen Haare ins Gesicht. Der Regen hat aufgehört. Ich atme durch. Es wird Zeit. Lang will ich nicht wegbleiben. Mein kleines Messer und der Speer. Das kleine Messer meines Bruders und der Speer. Das kleine Messer, das mein Bruder mir geschenkt hat, nachdem er mir – Monde her – versucht hat, damit in den Arm zu schneiden. Echt lustig. Wir dachten, es sei stumpf – aber wir waren einfach nur zu betrunken. Jetzt wird unsere Blutsbrüderschaft, obwohl überfällig, noch ein wenig warten müssen. Wenn wir überleben, wir beide. Wofür – zumindest für meinen Teil – etwas getan werden muss: was ich vorhabe. Die Klinge muss in Holz schneiden – erstmal. Ich betrachte meine Hand, die den Speer umfasst und wiegt. Die Hand, aus der ich ihn einst empfing, ist Rabenfraß geworden. Mein anderer Bruder ist das gewesen, mein leiblicher. Er war jünger als ich. Aber dann haben die Valkyries ihn geholt, vor der Zeit, wie ich meine. Er ist tot und ich lebe. Die Welt kann ungerecht sein. Es gilt, Ausgleich zu schaffen. Verdammt. Hätte er nicht überleben können? Es ist, wie es ist. Es rafft immer die Falschen dahin. Morgen werden viele dran sein, niemand weiß, wen es treffen wird. Deshalb bin ich hier. Mit dem kleinen Messer meines Lieblingsbruders, der nicht mein leiblicher ist – aber mir so nah wie die eigene Mutter. Welche Zeichen sind die richtigen – was ist der beste Zauber? Ich spucke aus. Kenne eh zuwenige. Wie war das – was hat die Erilar gesagt?

      „Nimm Ansuz. Das ist der Atem der Götter. Mächtiger Schutz. Besseren kriegst du nicht für die Schlacht.“ Und das hat sie gesagt: „Es ist Speerschüttlers Mantel. Siehst du den Stab? Den senkrechten Strich? Zwei schräge Äste gehen von ihm ab, weisen nach unten. Das sind die Falten von Siegvaters Mantel.“ Sie nennt den Schrecklichen nie beim Namen, erfindet immer neue. Aber es ist klar, wen sie meint: den Einäugigen! Ich nenn ihn ja auch nie beim Namen. Den Herrn der Valkyries. Die meinen Bruder fraßen. Meinen leiblichen. Kalt braust der Wind. Ich setze die Messerschneide auf den Speerschaft an. Zögere noch. Wie ging sie noch gleich, diese Rune, Ansuz?

      Die Erilar. Was willst du von der, hat es geheißen. Diese alte Wanderkrähe will dich doch bloß vernaschen, weil sie nie einen abkriegt. Jetzt versucht sie es bei dir, pass ja auf, haben sie gespottet. Aber sie haben – wie immer – keine Ahnung. Die Erilar braucht keinen Mann, hab ich die Freunde erinnert. Die hat es mit Frauen – und Tieren, wenn überhaupt. Und den Geistern. Ganz sicher mit den Geistern. Sonst wäre sie ja keine Erilar, oder? Aber mit Besoffenen kannst du nicht reden. Die lallen nur herum und dünken sich doll. Trottel, geliebte. Ich grinse. Aber Ahnung haben sie wirklich keine, die Freunde. Ich ging zur Erilar. Weiß gar nicht, was die so hässlich finden an ihr – angeschmust hat sie mich sowieso nicht. Eher fasziniert. Na ja, vielleicht nicht das richtige Wort. Ich mag sie. Sie macht mich ruhig. Ohne dass sie was sagen muss. Eine weise Frau. Ganz dunkel. Wie die Nacht heute. Fast schwarz ihre Haut, tiefschwarz ihr Haar und so kräuselig wie zerzauste Wolle… Sie sei von weit her gekommen, heißt es. Egal: eine der unseren. Vom Stamm der Katzen. Wir sind alle Katzen. Die Sonne ist unsere Mutter. Die Erilar