»Schau Heinrich, hier oben ist ein kleines Türchen.«
Albert deutete auf den Kachelofen.
»Hier konnte man Äpfel zum Schmorren reinlegen. Mann, was waren die lecker!«
Heinrich und ihr polnischer Gastgeber hatten bereits Platz an einem Tisch genommen.
»Herr Wójcik fragt, ob du auch einen kurzen Blick ins Schlafzimmer werfen möchtest.«
Natürlich wollte er. Als Kind hatte er es nie so richtig gemocht. Schließlich musste er sich diese kleine Stube mit seinen beiden Geschwistern teilen. Doch hier und heute, das war etwas anderes. Wie oft war er von dort aus durchs Fenster gestiegen, nur weil ihm der Weg durch die Haustür zu weit war.
»Ja«, meinte Albert. »Gerne.«
Auch im Schlafzimmer schien die Zeit stehengeblieben, nur eben die Möbel waren auch hier nicht mehr dieselben. Beim Blick in dieses Zimmer bekam Albert Gänsehaut. Die Eindrücke und die Erinnerungen überwältigten ihn.
»Früher war dies das Schlafzimmer der Kinder«, erzählte er. »In einer hinteren Ecke stand ein großer Kleiderschrank mit vielen kleinen Fächern. Dort wurden auch unsere Kleider und Schuhe aufbewahrt. Schuhe hatte ich nur zwei Paar, ein Paar für jeden Tag und dann meine Sonntagsschuhe, auf die ich nichts kommen lassen durfte. Da war unsere Mutter ganz penibel.«
Albert hörte, wie der alte Pole leise mit Heinrich sprach.
»Albert! Herr Wójcik sagt, dass es den alten Schrank, der früher in diesem Zimmer stand, noch gibt. Er hat ihn auf den Speicher gebracht und bewahrt darin Dinge auf, die er nicht mehr braucht.«
Albert wollte es kaum glauben. Hatte er richtig gehört? Den alten Schrank, es gab ihn noch. Ja, warum auch nicht. Er war massiv aus Eiche. Deutsche Wertarbeit, wie es so schön heißt. Robust. Etwas, was man nicht so schnell kaputt kriegt. Etwas für die Ewigkeit. Wenn der alte Schrank noch existierte, vielleicht befanden sich darin auch noch seine Schlittschuhe, die er bei der Flucht zurücklassen musste, schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf.
»Heinrich, kannst du dich noch erinnern? Ich hatte dir am See doch von den Schlittschuhen erzählt, die mir mein Vater zum 12. Geburtstag geschenkt hatte.«
»Ja, Albert! Was ist damit?«
Heinrich schaute Albert fragend an.
»Meine Mutter hatte sie in dem Schrank in einem geheimen Staufach versteckt, als ich mir damit einmal einen Schuhabsatz kaputt fuhr. Sie dachte immer, wir Kinder hätten keine Ahnung von der Existenz dieses Faches.«
Albert wirkte geradezu euphorisch.
Wieder sprach Heinrich mit dem Gastgeber.
»Herr Wójcik sagt, dass er noch nie irgendwelche Schlittschuhe in dem Schrank gesehen hat. Er sagt, wenn du möchtest, können wir gerne nach oben gehen und uns den Schrank und das Fach anschauen.«
Die drei hielt es jetzt nicht mehr in dem Schlafzimmer. Sie eilten durch die Wohnstube und die Küche wieder in den Flur. Dann stiegen sie die alte Speichertreppe hinauf.
Stanislaw Wójcik öffnete die Tür zum Dachboden. Sie knarrte laut, was wohl daran lag, dass sich in den letzten Jahren wohl selten jemand hier obenhin verirrt hatte. Albert betrat als Erster den Raum. Sofort fiel sein Blick auf den Schrank. Aus Tausenden von Schränken hätte er ihn wiedererkannt. Diesen Schrank gab es nur einmal auf der Welt. Alle Schrecken und Wirren des Krieges hatte er überstanden, um nunmehr in wenigen Minuten sein Geheimnis preisgeben zu können.
»So, nun passt mal auf, was hier gleich geschieht!«
Albert war geradezu entzückt. Er bückte sich und öffnete die untere linke Schublade, zog sie heraus und legte sie zur Seite. Dann griff er – so als habe er es schon tausend Mal zuvor geübt – mit der rechten Hand in den Hohlraum. Als seine Finger wieder zum Vorschein kamen, hielt er einen kleinen runden Holzstopfen in Händen, der als Entriegelung für eine weitere Schublade gedient hatte.
»Schaut mal her!«, strahlte er.
Und tatsächlich, was zuvor wie eine Zierblende aussah, ließ sich jetzt bequem nach vorne schieben.
Albert zuckte. Was war das? Das Fach, es war leer!
Für einen Augenblick war es gespenstisch still auf dem Dachboden geworden.
Albert konnte es nicht glauben. Das Fach, von dessen Existenz niemand im Haus etwas wissen konnte, war leer. Fassungslos starrte er in die verstaubte Schublade.
Albert erinnerte sich, dass er schon einmal vor dieser leeren Schublade gestanden hatte. Das war Ende 1944 …
Der erste Wagen
»Suchst du etwa die hier?«
Die Stimme, die Albert hinter sich vernahm, kannte er nur zu gut.
Ist das nicht …?
Noch immer sprachlos, drehte er sich um.
Karlchen? Natürlich! Es war Karlchen, sein kleiner Bruder. Geschniegelt und gestriegelt stand er im Eingang zum Schlafzimmer, etepetete, wie aus einem Ei gepellt. Pechschwarze Haare, akkurater Seitenscheitel, Knickerbocker mit Hosenträger, darunter sein Lieblingshemd – ein weißes, langarmiges. Die Schuhe blitzblank geputzt, dass man sich fast darin hätte spiegeln können.
Albert hatte ihn gar nicht bemerkt. Doch immer dann, wenn man überhaupt nicht mit ihm rechnete, war er plötzlich da.
»Woher hast du gewusst, wo die Schlittschuhe sind?«
Die Schlittschuhe an den Schnüren gepackt, hielt er sie zwei Trophäen gleich in die Höhe und stand dabei wie angewurzelt in der Zimmertür. Ein breites schelmisches Grinsen legte sich auf sein Gesicht, so wie er immer grinste, wenn ihm irgendetwas durch den Kopf schoss, was nichts taugte. Karlchen war zehn Jahre alt, aber ein ausgekochtes Schlitzohr, wie es in Klotainen kein zweites gab.
»Willumeit hat es mir zugeflüstert!«, antwortete Karl.
»Willumeit? Nie und nimmer!«, fauchte Albert ihn an.
Adolf Willumeit galt im Dorf als Sonderling, von der Statur her war er ein stangenlanges Gerebbel mit ausgesprochen großen Ohren, die er zumeist unter einer Mütze zu verstecken versuchte. Sommer wie Winter lief er mit der gleichen, zigfach gestopften Jacke durchs Dorf, die er vor dem Anziehen ausschlackerte und die aussah, als hätten die Mäuse daran geknabbert. Willumeit galt als wortkarg, er redete nicht viel, was aber nichts damit zu tun hatte, dass er nichts zu sagen gehabt hätte. Im Gegenteil. Wenn er etwas mitzuteilen hatte, dann fanden sich in dem ansonsten ereignisarmen Klotainen auch rasch ein paar Zuhörer. Das lag wohl daran, dass manche Leute im Dorf glaubten, er habe so etwas Ähnliches wie seherische Fähigkeiten. Im Jahr 1933, als ein kleiner Weltkriegsgefreiter, der eigentlich gar kein Deutscher war, Deutschland auf Kosten anderer zur Weltmacht machen wollte, erzählte Willumeit im Dorf von einem großen Krieg, der das Land überziehen würde. »Millionen von Menschen werden ihr Leben lassen«, erzählte er den Leuten im Dorf, den Kleinen wie den Großen. Und dass es am Firmament geschrieben stand, von wo er es nur habe ablesen müssen, was ihm in dem kleinen ermländischen Dörfchen stets größte Aufmerksamkeit zuteil werden ließ.
Jemand hatte also für andere unsichtbar am Himmel herum gepinselt, und Adolf Willumeit, der Sonderling aus Klotainen, brauchte es nur noch zu lesen. Die meisten im Dorf hielten ihn für einen Schossel, für jemanden, der einfach nur dumm daher redete. Sie zeigten mit dem Finger an den Kopf, wenn die Rede auf Willumeit und seine Prophezeiungen kam. Auch seiner Frau war das Gerede nicht geheuer. »Schlabber nuscht so kariert«, meinte sie zu ihm. »Du machst mir in Klotainen noch alle ganz meschugge! Ja sie drohte ihm sogar damit, dass sie ihm sein Klunkermus, eine Art Milchsuppe mit eingerührten Mehlklößen, seine Lieblingsspeise, entziehen würde, wenn er nicht damit aufhören würde, von irgendwelchen Himmelserscheinungen zu faseln. Fortan hielt Willumeit zwar immer häufiger seinen Mund, wenn es um die