»Was ist aus den Schlittschuhen geworden?« Heinrich interessierte die Geschichte.
»Weiß ich nicht. Bei der Flucht blieben sie zurück im Haus. Die Schlittschuhe sind sicherlich so wie ganz Ostpreußen mit dem Krieg untergegangen.«
Heinrich strich sich mit der Hand durch die Haare.
»Wollen wir ins Dorf fahren?«
Albert fuhr es in den Magen. Ins Dorf? Nach Klotainen? Er spürte wie das Herz schneller schlug, so wie bei der Landung in Danzig. Klotainen – wie sehr war dieser Name mit Sehnsucht und mit Schmerz verbunden.
»Nach Klotainen!?«
»Ja! In fünf Minuten sind wir da. Länger brauchen wir kaum«, war sich Heinrich sicher.
Was waren schon fünf Minuten im Vergleich zu 60 Jahren. Ein Wimpernschlag, ein winziges Nichts – und für Albert in diesem Augenblick doch eine ganze Ewigkeit.
Albert zog die Füße aus dem Wasser, rieb sie mit den Händen kurz trocken, streifte sich die Socken und Schuhe über. Dann stand er auf.
»Ja, lass uns fahren, Heinrich. Fahren wir… Fahren wir nach Hause!«
Heinrich steuerte den Wagen zunächst Richtung Heilsberg. Die Straße führte durch einen dicht bewachsenen Erlenwald. Die Teerdecke war bestückt mit unzähligen Schlaglöchern, die aneinander gereiht Albert stark an einen Schweizer Käse erinnerten. Nachdem sie die Chaussee erreicht hatten, setzte Heinrich den Blinker nach rechts und fuhr Richtung Seeburg.
Albert fühlte, wie sein Herz raste. Unentwegt starrte er auf die Landschaft, die in einem Rausch von Farben an ihm vorüberflog.
War das die Straße nach Klotainen? War das der vereiste Weg, den er vor 60 Jahren bei bitterer Kälte mit der Mutter und seinen Geschwistern auf der Flucht vor der sowjetischen Kriegsfurie genommen hatte? Albert war sich nicht sicher. Alles hatte sich verändert. Früher waren die Straßen hier nicht asphaltiert. Sie waren zu einer Hälfte gepflastert und zur anderen Hälfte mit Sand bedeckt. Und die Bäume waren gewachsen, sie überzogen die Straße mit ihren wuchtigen Kronen wie ein grünes Dach.
Völlig unverhofft schossen Albert Fetzen von Bildern durch den Kopf. Ganz plötzlich waren sie da. Deutlich sichtbar. Schmerzend. Er sah, wie sich dieser endlose Flüchtlingstreck den Weg nach Heilsberg hinunter schlängelte – alte Männer, Frauen und Kinder, dick vermummt auf Pferdewagen oder mit Handkarren, vom Kampf gezeichnete Soldaten in Militärfahrzeugen oder zu Fuß. Der Horizont war rot, blutrot, und die Straßen hatte der Frost mit einem zentimeterdicken Eis überzogen. Die Fuhrwerke kamen ins Rutschen, Granaten flogen über die Köpfe der Flüchtlinge. Man hörte ein ständiges Pfeifen und in der Ferne ein dumpfes Dröhnen der Geschütze.
Albert wandte sich seinem Begleiter zu. Er versuchte, diese alten Gespenster aus den Tagen von Flucht und Vertreibung aus seinem Kopf zu verbannen und blickte zu den wuchtigen Baumkronen empor.
»Heinrich, schau diese Bäume! Wie gewaltig sie doch in den sechs Jahrzehnten gewachsen sind. Da, die Brücke über die Simser – die war damals anders. Sie ist neu gemacht worden! Und dort, der Weg nach Blumenau: Er ist nicht geteert. Geradeso wie damals. Herrlich, diese sandigen ostpreußischen Wege«, schwärmte Albert, während sein Herz laut pochte. Immer wieder schossen Erinnerungsfetzen durch seinen Kopf. Wie er als Kind mit seinem Bruder Karl zum kleinen Bahnhof nach Blumenau ging. Hier in der Nähe gab es die besten Blaubeervorkommen. In der Nähe von Blumenau musste er beim Torfstechen helfen.
»Schau, gleich sind wir da.« Heinrich deutete auf das Ortseingangsschild.
Klutajny stand dort. Klutajny! Nicht Klotainen. Eigentlich hatte Albert es auch nicht anders erwartet. Und doch wirkte es befremdlich auf ihn.
Und auf der linken Seite? Statt auf das Rittergut blickte er auf einen ehemaligen Kolchose-Betrieb. Landwirtschaftliche Maschinen standen verlassen und wie stumme Zeugen einer vergangenen Epoche verrostet umher. Hier arbeitete niemand mehr. Ein trauriger Anblick. Und an der Straße, wo früher vereinzelt Wohnhäuser und Miggegrets Gaststätte standen, thronten nunmehr Plattenbauten, farblos und grau in grau.
»Dort wohnen die Leute, die früher in der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft tätig waren. Viele von ihnen sind heute arbeitslos. Auf der anderen Straßenseite hat sich manch einer seinen Schrebergarten angelegt«, erläuterte Heinrich, der die Fahrt verlangsamte. Er schien bemerkt zu haben, was Albert bewegte.
»Das Rittergut, das haben die Kommunisten dem Erdboden gleichgemacht. Ich glaube, es ist nur noch ein alter Pferdestall übrig geblieben. Aber Euer Reihenhaus von damals, das steht noch.«
»Unser Haus, es steht noch?«
Albert erschrak. Damit hatte er nicht gerechnet. Zugleich empfand er aber eine tiefe Freude. Wird er es wiedererkennen? Hat sich vieles verändert? Warum hatte er nicht schon früher danach gefragt? Wer wohnt heute dort? Jetzt war er so nah dran, doch jeder Meter Straße schien ihm endlos lang.
»Sind wir gleich da, Heinrich?«
»Ja, gleich. Da unten links, da ist es…«
Wie konnte er nur fragen. Natürlich da unten in der Senke ging es nach links und dann waren es noch 200, 300 Meter.
Heinrich setzte den Blinker.
Eine Betonpiste hatten sie über den einstmals schönen sandigen Boden gezogen. Harten Beton …! Der Wagen ruckte unentwegt. Dann sah Albert bereits die Hausecke. Es war ein Reihenhaus. Vier Familien wohnten dort. Die Koslowskis, die Wohlgemuths, Wagners und … die Steinkys.
Der Wagen stand vor dem Eingang zur Wohnhaushälfte. Der Motor lief leise. Ohne etwas zu sagen blickte Albert auf das alte Backsteinmauerwerk. Ja, das war sein Elternhaus. Kaum etwas hatte sich verändert. Sicher, es war in die Jahre gekommen. Die vergangenen sechzig Jahre waren keinesfalls spurlos an dem Gebäude vorbeigegangen. Das Dach war nie erneuert worden, der Putz marode. Farbe hatte das Haus offenbar in den letzten Jahrzehnten ebenfalls nicht zu sehen bekommen. Aber das alles spielte für Albert jetzt keine Rolle. Das Haus, es stand noch, und es war ein schönes Haus. Das schönste in Klotainen, im ganzen Ermland, in ganz Ostpreußen. Es war sein Elternhaus, und das sollte es bleiben, so lange er auf dieser Welt weilte.
»Sollen wir aussteigen und anklopfen?«, fragte Heinrich.
Albert war tief in seine Gedanken versunken. Heinrich hakte nach.
»Sollen wir reingehen?«
»Was?
»Möchtest du in das Haus gehen?«
Albert war nicht wohl bei dem Gedanken. Er zögerte, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Die Gefühle spielten verrückt.
»Ich weiß nicht. Ich… Ich glaube, ich kann es nicht. Vielleicht wollen die Leute uns gar nicht hier haben. Vielleicht verängstigen wir sie nur? Vielleicht hassen sie die Deutschen …? Nein, Heinrich. Später … lass uns später noch einmal herkommen. Komm Heinrich – fahr. Wir kommen später noch einmal wieder. Fahr! Bitte fahr!«
Heinrich zögerte einen Augenblick.
»Wohin?«, fragte er vorsichtig.
»Ich weiß nicht. Nur weg von hier, Heinrich. Nur weg…!«
Heinrich legte den Rückwärtsgang ein.
»Dann fahren wir nach Siegfriedswalde zur Kirche – oder?«
»Ja, zur Kirche…. Das ist eine gute Idee. Komm Heinrich, fahr zur Kirche!«
Heinrich steuerte den Fiesta zurück zur Chaussee. Auf der gegenüber liegenden Seite zur Ausfahrt war ein kleiner Altar aufgebaut. Eine alte Frau steckte ein paar Blumen in eine Vase. Albert nahm keine Notiz davon. Seine Gedanken zu ordnen, es fiel ihm schwer in diesem Augenblick. Warum war er nicht in das Haus gegangen? Hatte er Angst davor, dass ihn die Vergangenheit auf diesen wenigen Quadratmetern Wohnfläche einholen würde? Dass sie ihn lähmen, ihm die Luft abschnüren würde? Nach etwa fünf Kilometer Wegstrecke erreichten sie Siegfriedswalde. Albert wollte nur jetzt noch eins: