Michael W. Caden
DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHLITTSCHUHEN
Ein Ostpreußen-Roman der nächsten Generation
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2014
Dieses Buch beruht in großen Teilen auf wahren Begebenheiten.
Einige Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Titelbild © Uwe Moldenhauer,
Fotostudio Röder-Moldenhauer, Bad Marienberg
Gefördert durch Villa Sonnenmond in Neustadt/Westerwald
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
»Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.«
Jean Paul
Ankunft in Danzig
Klotainen – Kreis Heilsberg – Ostpreußen. Diese Namen begleiteten ihn sein Leben lang. Wie oft hatte er sie schon geschrieben? Er wusste es nicht. Dutzende Male, das war gewiss. In der Schulzeit, während seiner Ausbildung, bei Bewerbungen, immer, wenn er sie zu Papier brachte, erinnerten sie ihn an ein Leben vor dieser Zeit. An ein Leben, das er beinahe verdrängt hatte. Doch diese Namen waren untrennbar verbunden mit ihm, sie waren Identität, mehr als bloße Worthülsen, mehr als ein gelebtes Gefühl, und sie waren für ihn auch immer eng verknüpft mit Wehmut.
Gedankenversunken blickte der ältere Herr in Reihe 25 aus dem Fenster des Flugzeuges. Der Himmel war wolkenverhangen, dazwischen schimmerte vereinzelt etwas blau. Nach knapp eineinhalb Flugstunden würde er in wenigen Minuten wieder festen Boden unter den Füßen haben – polnischen Boden.
Viele Länder hatte er in den vergangenen 60 Jahren bereist, aber Klotainen, dieses kleine ermländische Dorf im Herzen Ostpreußens, dieser 200-Seelen-Ort, der kaum auf einer Landkarte vermerkt war, blieb für ihn stets unerreichbar. Über Jahrzehnte lag es fern jenseits des Eisernen Vorhangs. Ein Landstrich mit einem unvergleichbaren Zauber. Der Himmel hoch und weit. Und jetzt war es so unvorstellbar nahe – nur einige wenige Stunden trennten ihn noch von diesem Ort.
Planmäßig setzte der Airbus 320 auf der Landebahn von Rebiechowo auf. Ein paar Fluggäste applaudierten verhalten. Nicht alle der 150 Sitzplätze waren besetzt, hier und da klafften Lücken.
»War eigentlich gar nicht so schlimm«, dachte der ältere Mann. Er war Mitte 70, hoch gewachsen, kräftig. Brillenträger. Die vollen grauen Haare hatte er zurückgekämmt. Er trug eine dunkle Faltenhose, dazu ein helles Karo-Hemd, Schlips und ein beiges Sakko. Vor eineinhalb Stunden war er als Passagier von Frankfurt-Hahn in Richtung Danzig gestartet – zum ersten Mal in seinem langen, arbeitsreichen Leben hatte er ein Flugzeug bestiegen.
Kurz bevor der Airbus seine endgültige Halteposition erreichte, setzte reges Treiben im Passagierraum ein. Stauraumfächer wurden aufgestoßen, Handtaschen, Rucksäcke, Pakete hastig herausgezogen. Alles schien der Bewegungsstarre entronnen, die sich noch kurz vor der Landung eingestellt hatte.
Dem Mann dort am Fenster machte die plötzliche Hektik nichts aus – eigentlich schien er sie nicht einmal zu bemerken. Noch immer in Gedanken versunken blickte er über den Rand seiner Brille durch das kleine Seitenfenster zum Flughafengebäude hinüber. »Lech Walesa Airport« stand dort in dicken Lettern zu lesen.
Er spürte, wie sein Puls an Tempo zunahm, fühlte, wie er am Kragen schwitzte, wie die Nässe stromlinienförmig über seine Hände glitt. 1945 war er in Danzig am Bahnhof nur knapp dem Beschuss durch sowjetische Tiefflieger entkommen. Es war mit einem Male so, als hätte sich die Uhr von einem Augenblick auf den anderen um sechzig Jahre zurückgedreht. Hunderttausende befanden sich auf der Flucht vor der sowjetischen Kriegsfurie. Bilder schossen ihm durch den Kopf. Fragmente von schmerzverzerrten Gesichtern. Grauenhafte Bilder. Bilder, von denen er glaubte, dass er sie längst verdrängt hätte. Ihm war, als höre er die Kommandos der Offiziere. Verwundete wurden in die Waggons gehoben, vor allem Soldaten, notdürftig verbunden, die Uniformen zerfetzt, dazwischen auch Zivilisten: alte Männer, Frauen und Kinder. Er sah, wie Projektile durch die Vertäfelung des Waggons schlugen, Holzsplitter flogen umher. Er hörte die Detonationen, das Schreien der Flüchtlinge, die nichts als nur noch das bloße Leben bei sich trugen. Die Luft roch nach Metall und Schwefel. Flammen schlugen aus dem Bahnhof, ganze Wände des riesigen Gebäudes brachen ein. Eine Mutter blickte ihn wortlos mit großen, starren Augen an, in den Armen hielt sie ihr lebloses Kind.
Wie aus heiterem Himmel tauchten urplötzlich zwei Tiefflieger mit einem ohrenbetäubenden Dröhnen neben den Gleisen auf. Sie luden ihre Salven über der Menschenmenge ab. Zwei Soldaten brachen nur wenige Meter von ihm entfernt tödlich getroffen zusammen. Direkt neben ihm schlugen lange Reihen von kleinen Blitzen in den Boden. Zwei Sanitäter, die einen Verwundeten auf einer Trage transportieren, sackten getroffen zusammen. Ein Soldat stieß ihn in den offenen Waggon, er spürte einen stechenden Schmerz im Bein, dort, wo er Tage zuvor von einem Granatsplitter getroffen worden war. Der Zug setzte sich in Bewegung. Hoffentlich sind die Gleise heil geblieben, schoss es ihm durch den Kopf. Nur weg von hier, dachte er. Nur weg!
»Entschuldigen Sie bitte, mein Herr!« Der Mann am Fenster reagierte nicht.
»Entschuldigen Sie …, Sie müssen aussteigen!«
Aussteigen? Der ältere Herr auf Platz 25a drehte sich in die Richtung, aus der er die Stimme wahrgenommen hatte.
»Der Flug ist zu Ende, gleich kommen die Reinigungskräfte. Sie müssen das Flugzeug jetzt verlassen.«
Die junge Dame mit dem frisch aufgetragenen Make-up war freundlich, aber bestimmt. Sie lächelte.
»Ja gut, ich komme.«
Der ältere Herr rückte die Hemdsärmel noch einmal gerade. Er packte seine kleine Reisetasche, die er unter dem Sitz verstaut hatte, zupfte kurz an der Krawatte und ging in Richtung Ausgang.
»Wir hoffen, Sie beehren uns bald wieder«, meinte die Flugbegleiterin, als er die Maschine verließ.
Noch immer in Gedanken versunken blickte der Mann zur Stewardess.
»Was meinten Sie?«
»Wir hoffen, Sie beehren uns bald wieder.«
»Hm ja«, brummelte er. »Ja, ja…«
Zielstrebig steuerte der ältere Herr das Eingangstor zum mehrstöckigen Passagierterminal an. Auf halber Strecke kreuzte er einen Container. Durch eine große Glasscheibe erblickte er mehrere Männer in Uniform. Es waren Soldaten, die an einem Tisch saßen und redeten. Einer lachte. Zwei andere gestikulierten mit den Händen. Einer der Uniformierten blickte flüchtig zu ihm hinüber. Der Mann schaute angestrengt weg. Was niemand sehen konnte: Seine Hände waren immer noch schweißgebadet.
Was ist mit den Soldaten? Werden sie dich kontrollieren? Wirst du die Tasche öffnen müssen? Was, wenn sie deinen deutschen Pass sehen?
Nur nicht auffallen!, dachte der Mann. Auf gar keinen Fall auffallen!
Doch nichts von alldem geschah. Die Uniformierten nahmen den letzten Passagier des Fluges 3093 nicht einmal zur Kenntnis.
Als