»Wie sehen die Polen das heute eigentlich, wenn immer mehr Deutsche zu Besuch kommen?«, fragte Albert. Mittlerweile hatten sie Elbing schon ein Stück weit hinter sich gelassen und steuerten auf Preußisch Holland zu.
»Wissen Sie Herr Steinky, ähm Albert, die Leute sind verunsichert. Kaczynski hat den Eindruck erweckt, und viele Boulevard-Zeitungen sind drauf angesprungen, dass die Deutschen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zurückkommen werden. In Ostpreußen hat Kaczynski den polnischen Familien »hundertprozentige Rechtssicherheit« versprochen; sie dürften keine Angst haben, dass ihnen jemand ihr Land wegnehme. Kaczynski will deutschen Ansprüchen auf Eigentum in Polen endgültig einen Riegel vorschieben. Er kündigte an, er werde das Problem der Rückgabe von Immobilien an frühere deutsche Eigentümer ‘ein für alle Mal’ regeln. Die Ansprüche Deutscher, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben und enteignet wurden, lösen in den betroffenen polnischen Gebieten große Sorge aus.«
Albert hatte davon gehört. Doch er sagte nichts, schaute stattdessen nur aus dem Fenster. Sie passierten gerade einen kleinen Ort. Er sah, wie ein paar Kinder an einer Schule Seilhüpfen spielten.
»Ich stamme aus einem kleinen Ort namens Klotainen. Das liegt in der Nähe von Heilsberg«, begann Albert ganz unverhofft zu erzählen. »Dort gab es auch ein gleichnamiges Rittergut. Mein Vater arbeitete dort. Er war Kutscher und für die Pferdestallungen verantwortlich. Meine Mutter arbeitete auf dem Gut als Köchin. Wir waren zu fünft: Mein Vater Willi, Mutter Elisabeth, ich, mein jüngerer Bruder Karl und Lieschen, unser Nesthäkchen.«
»Ja, Pferde, die hatten wir auch auf unserem Hof bei Guttstadt«, wandte Heinrich ein. »Die stammten zwar nicht aus großen Züchtungen, doch wie sagte mein seliger Vater doch immer so schön: ‚Schwarze Kehj gewe ok witte Melk’. Sie haben ihren Zweck erfüllt, und es waren wunderbare Arbeitstiere.«
In ein paar Hundert Meter Entfernung entdeckte Heinrich einen Kirchturm.
»Da schauen Sie, Albert, wir sind schon in Preußisch Holland. Jetzt geht’s nur noch gen Osten.«
»Mein Gott, wie schön – die ersten Alleen.« Wie sehr hatte sich Albert nach ihnen gesehnt. Er kannte diesen Anblick nur noch aus Reisereportagen im Fernsehen. Wie ihn dieser Anblick faszinierte.
Direkt hinter Preußisch Holland nahm der Straßenverkehr merklich ab. Nur noch ab und zu begegnete den beiden ein Fahrzeug.
»Ich wusste gar nicht mehr, dass es hier so einsam sein kann.«
»Ja, das kann es. Besonders im Winter.«
»Wie weit ist es noch bis Heilsberg?«
»Vielleicht so fünfzig Kilometer.«
Die Landschaft nahm Albert gefangen. Beim Blick aus dem Fenster fielen ihm sofort die vielen Wegekreuze und Kapellen an den Straßen und in den Vorgärten auf. Wie früher, dachte Albert. Doch was nicht passen wollte, das waren die verlassenen und verfallenen Bauernhöfe, die wie stumme Zeugen einer verfehlten Agrarpolitik in der hügeligen Landschaft standen.
Albert blickte kurz zu seinem Begleiter.
»Gibt es hier noch viele Bauernhöfe?«
»Ja, die gibt es.«
»Das war früher auch schon so. Es hat sich nicht viel verändert. Meine Mutter stammte von solch einem Hof in der Nähe von Raunau am Rande des Ermlandes.«
»Ja, ja, das Ermland. Eine katholische Insel in der evangelischen Provinz Ostpreußen, es war ein Bauernland mitten im Gebiet des Großgrundbesitzes«, schwärmte Heinrich, aus dem es jetzt nur so heraussprudelte. Er hatte, so schien es, seine Hausaufgaben gemacht.
»Es gab keine natürlichen Grenzen, die es von den Nachbargebieten trennten, nur durch die geschichtliche Entwicklung ist die Sonderstellung des Ermlandes innerhalb Ostpreußens zu erklären. Obwohl im Herzogtum Preußen nach 1520 die Reformation eingeführt wurde, behauptete der Bischof von Ermland seine Selbstständigkeit. Das Bistum blieb katholisch.«
»Ich dachte immer, dass es heutzutage ärmlich hier aussehen würde. Das tut es aber gar nicht«, meinte Albert nachdenklich.
»Die Gegend gehört auch heute noch zu den fruchtbarsten Gebieten Ostpreußens. Es gibt zwar keine großen Güter mehr, dafür aber überall wohlhabende Dörfer. Neben dem Ackerbau widmeten sich die ermländischen Bauern schon immer der Vieh- und Pferdezucht und der Milchwirtschaft. Die mittelschweren Pferde hier wurden immer sehr geschätzt. Zwischen den wohl bestellten Feldern und fetten Weiden fehlte es nie an Naturschönheiten. Im Walschtal fand der naturfrohe Wanderer ein unberührtes Naturschutzgebiet mit seltenen Pflanzen, an der Simser und der Alle anmutige Flusstäler, und im Kreis Allenstein war er mitten im Land der dunklen Wälder und kristallenen …«
Völlig unverhofft beendete Heinrich seinen Monolog. Er stoppte den Fiesta und setzte den Blinker. Dann bog er mit dem Wagen nach links in eine kleine Einfahrt.
»Wir sind da! Da oben links ist das Hotel.«
Albert und Heinrich hatten sich lange über das Land und seine Menschen unterhalten. Dabei war es Albert ganz entgangen, dass sie das Ortseingangsschild von Heilsberg bereits passiert hatten. Die letzten 50 Kilometer waren wie im Fluge verstrichen.
»Da ist es also, das Pod Klobukiem«, sagte Heinrich und betonte es dabei so, als habe er gerade ein Fünfsterne-Luxushotel angesteuert.
Na ja, ganz nett von außen, dachte sich Albert. Das Gebäude schaute mit diesen dicken Leuchtreklamebuchstaben an der Außenfassade zwar noch etwas sozialistisch drein, doch Heinrich hatte es ihm angepriesen wie warme Semmeln. Vor ein paar Jahren hatte der Besitzer gewechselt. Der neue Eigentümer brachte das Hotel wieder auf Vordermann. Heinrich hatte schon am Telefon mit ihm Bekanntschaft gemacht.
Heinrich stoppte den Wagen vor dem Hotel. Sie stiegen aus und holten das Reisegepäck aus dem Kofferraum. Da kam ihnen auch schon jemand aus der Eingangstür des Hotels entgegen.
»Guten Tag, die Herrschaften. Herzlich willkommen im Pod Klobukiem. Ich heiße Janusz und bin der Manager dieses Hotels. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise.«
Der Hotelier war ein kleiner, quirliger Mann, leicht untersetzt, etwa Mitte 30, im eleganten Anzug. Er sprach einwandfreies Deutsch mit einem leichten Akzent.
»Ja, das hatten wir. Woher können Sie so gut Deutsch«, interessierte sich Albert.
»Ich habe es von meiner Mutter gelernt. Sie war Deutsche und hat nach dem Krieg einen Polen geheiratet. Später habe ich ein paar Jahre in Deutschland gearbeitet.«
Sie gingen durch den Hoteleingang zur Rezeption, stellten die Koffer ab und erledigten die Formalitäten. Der Hotelier fischte den Zimmerschüssel vom Schlüsselbrett hinter dem Tresen, nahm eine der Taschen und trug sie die Treppe hoch bis zum Zimmer.
»So, da sind wir, das sind Ihre beiden Einzelzimmer. Ich habe Ihnen die 110 und die 111 gegeben. Ich hoffe, Sie werden sich wohl bei uns fühlen.«
»Vielen Dank, ich denke schon«, meinte Albert.
Der Hotelier reicht den beiden die Zimmerschlüssel und verabschiedete sich. Es war bereits spät am Nachmittag, in Kürze würde sich die Dunkelheit über das Land legen. An diesem Abend würden sie nichts mehr unternehmen. Albert und Heinrich richteten sich in ihren Zimmern ein, dann gingen sie gemeinsam zum Abendessen. Es gab Gegrilltes. In der Ecke neben dem Eingang zum Restaurant erblickte Albert einen in Holz gearbeiteten