MICHAEL CENCIG:
Was haben Sie damals studiert?
SAMUEL KOCH:
Ich hatte das große Privileg, in Hannover an der Hochschule für Musik, Theater und Medien einen von zehn Studienplätzen angeboten bekommen zu haben. Im Studiengang Schauspiel, wofür sich sehr viele bewerben.
MICHAEL CENCIG:
Aber Sie können Ihr Studium jetzt fortsetzen …
SAMUEL KOCH:
Ja, ich bin nach wie vor immatrikuliert. Diese Nachricht habe ich schon sehr früh, in der Klinik, bekommen. Das war sehr schön! Ein Regisseur hat sich meiner angenommen und die Dozenten haben gesagt: „Ja, wir versuchen es einmal. Wir wissen zwar nicht, wie das werden wird, aber wir versuchen es!“ So eine Situation hat es ja noch nie gegeben. Theoretisch würde ich in so einem Zustand nie und nimmer eine Aufnahmeprüfung bestehen. Da muss man realistisch sein. Aber sie haben gesagt, sie würden es probieren. Zusätzlich wurde mir noch anderes angeboten. An die Hochschule ist auch das Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung angeschlossen. Da kann ich im Bereich Medienwissenschaft meinen Horizont erweitern und mich ein wenig neu orientieren, um zu sehen, welche Alternativen es gibt. Das ist wirklich ein sehr schönes Angebot von der Hochschule – wo auch immer das hinführt.
MICHAEL CENCIG:
Ich nehme an, das ist ein Faktor, der Ihnen Lebensmut gibt, oder?
SAMUEL KOCH:
Lebensmut. Das ist ein starker Begriff. Natürlich, wenn man eine Beschäftigung hat, ist man meistens motiviert. Aber, was macht Mut? Wenn sich Leute einem anvertrauen oder einem trauen und sagen „Probier das doch!“ oder „Wir machen das jetzt mit dir!“. Das macht natürlich Mut. Oder: Wir haben in der Hochschule das Stück „Nach Moskau!?“ nach Anton Tschechows „Drei Schwestern“ zusammen mit Jan Konieczny11 inszeniert. Ein Ziel ist immer, das Publikum zum Weinen, zum Lachen und – wenn es sich darauf einlässt – zum Nachdenken anzuregen. Diese Ziele konnten wir erreichen. Für mich war ein großes Erfolgserlebnis, dass der Rollstuhl nicht im Fokus stand, sondern ich als Schauspieler. Einige Zuschauer fanden – das hat sich im Nachhinein im Gespräch herausgestellt –, dass dieser Schauspieler wirklich gut mit dem Rollstuhl umgegangen sei. Die kannten mich nicht, und sie wussten nicht, dass ich nicht einen Querschnittgelähmten spiele, sondern tatsächlich im Rollstuhl sitze. Das war sehr ermutigend und hat darüber hinaus auch sehr viel Spaß gemacht.
MICHAEL CENCIG:
Wie stellt sich für Sie dieses Verhältnis von Freude und Leid dar?
SAMUEL KOCH:
Ich glaube, Leid ist kaum nachhaltig zu ertragen, wenn man nicht auch Freude erlebt. Sonst verliert man jeden Lebensmut, wenn man nicht irgendwo Kraft und Freude schöpfen kann. Sei es – eben wie in meinem Fall – durch Freunde, Familie und Erfolgserlebnisse im Studium oder auch ganz einfach durch zum Beispiel die warme Sonne oder leckeres Essen.
MICHAEL CENCIG:
Sie haben von verschiedensten Menschen große Unterstützung erfahren. Können Sie – gerade durch Ihr Schicksal – anderen Menschen etwas geben? Vielleicht auf einer anderen Ebene?
SAMUEL KOCH:
Es ist ein Geben und Nehmen. Wenn ich jemandem Mut machen kann, macht das auch mir wieder Mut. Ein aktuelles Beispiel, das weniger meiner Person als der Bekanntheit meiner Person geschuldet ist, das mir aber große Freude gemacht und mich ermutigt hat: Eine iranische Hochleistungssportlerin ist im Iran verunglückt. Ihr Verein hat den Transport und eine Operation in Deutschland finanziert. Als festgestellt wurde, dass sie querschnittgelähmt ist und eine hohe, ziemlich irreparable Halswirbelverletzung hat, wurden die finanziellen Mittel einfach gestoppt. Das Mädchen saß plötzlich hier – ohne Krankenkasse, ohne Versicherung, ohne richtigen Rollstuhl. Ein Arzt, der das mitbekommen hat und mich unter anderem betreut, rief mich an und fragte, was man machen könnte. Ich habe meine Kontakte zur „Deutschen Stiftung Querschnittlähmung“ benutzt und mit deren Hilfe – und einigen weiteren bürokratischen und organisatorischen Schritten – ist es geglückt, dass das Mädchen in einer Spezialklinik für Querschnittgelähmte behandelt werden konnte und einen Rollstuhl bekommen hat. Mein Tag war gerettet. Ich habe mich so gefreut, weil das geklappt hat. Das ist ermutigend und macht Freude.
Ich wage nicht zu behaupten, dass man zwangsläufig ein tiefgründiger Mensch wird, wenn man ein schweres Schicksal erleidet. In der Klinik, in der ich ein Jahr lang war, hieß es immer: „Wer vor seinem Schicksalsschlag ein ‚Arsch‘ war, ist es auch danach!“ Es ist natürlich schon so, dass das Leid einen zwangsläufig entschleunigt, zur Ruhe kommen und sich neu orientieren lässt. Das führt dazu, dass man sich seiner Werte und Ideale neu besinnen kann. Aber es gibt eben auch das Umgekehrte, dass man verbittert oder schnell tyrannische, diktatorische Züge annimmt, weil man – wie in meinem Fall – den ganzen Tag nur verbalisiert und kommuniziert, was man möchte, da man aus eigener Kraft gar nichts kann. Das gibt es auch.
MICHAEL CENCIG:
Woran glauben Sie?
SAMUEL KOCH:
Ich glaube an Weihnachten – an die Menschwerdung Gottes. Ich glaube an Ostern – die Auferstehung des Gekreuzigten. Ich glaube, dass es noch viel mehr gibt als das, was wir hier auf Erden sehen können.
MICHAEL CENCIG:
Glauben Sie an die Liebe?
SAMUEL KOCH:
Eine schöne Frage! Hat mich noch niemand gefragt. Ich glaube, ich weiß noch nicht so ganz, was Liebe ist …
Biblisch gesehen gibt’s ja verschiedene Arten von Liebe: den „Eros“, die sexuelle, die leidenschaftliche Liebe, die den anderen begehrt. Dann gibt es die „Philia“, die fürsorgende Liebe zwischen den Menschen, zwischen Freunden, die immer ein Geben und Nehmen beinhaltet. Hier steht der Gedanke der wechselseitigen Zuwendung im Vordergrund. Ich glaube, dass kein Mensch aus eigener Kraft imstande ist, nur zu lieben, nur zu geben, ohne zu empfangen. Und es gibt eine dritte Form der Liebe: Die „Agape“, die bedingungslose Liebe, die unerschöpflich ist und ständig geben kann. Das ist die göttliche Liebe. Auf diese hoffe ich. Ich weiß, dass es einen Gott gibt, der eine solche „Agape“ zur Verfügung stellen will – wenn man sie annimmt.
MICHAEL CENCIG:
Gab es nach dem Unfall jemals die Frage für Sie, ob Sie diese göttliche Liebe fallen gelassen hat?
SAMUEL KOCH:
(denkt lange nach) Hm. Also, es führte wahrscheinlich viel weiter. Es ging nicht nur darum, ob mich diese göttliche Liebe fallen gelassen hat. Es ging so weit, dass ich die Existenz einer solchen Liebe oder eines solchen Gottes hinterfragte. Ich denke aber, das ist typisch für den Menschen. Wenn etwas schiefgeht, geben wir oft Gott die Schuld und fragen: „Warum hat Gott das zugelassen?“ Wir fragen: „Gibt es überhaupt einen Gott?“ Oder andersherum: Oft beten Menschen: „Bitte, Gott, mach, dass nichts passiert!“ Wenn nichts passiert, sagen viele: „Gott sei Dank!“ Wenn aber doch etwas Schlimmes geschieht, sagen viele: „Wo war Gott, es gibt ihn doch gar nicht, der würde das sonst nicht zulassen!“ Ich habe Gott genauso hinterfragt.