BETTINA SCHIMAK:
Wie können wir zu diesem Frieden beitragen? Es gibt so vieles, worüber wir nichts erfahren.
ERWIN KRÄUTLER:
Das Erste ist, dass wir Informationen weitergeben. Da sind die Medien gefragt. Das Zweite ist, dass wir Menschen, die unsere Hilfe benötigen, auch tatsächlich unterstützen. Ich spreche nicht von Almosen. Aber ich weiß ganz genau, unser Einsatz ist nur möglich, wenn uns Leute auch finanziell unterstützen. Es geht um geschwisterliches Teilen. Eine andere Möglichkeit ist, Fair-Trade-Produkte zu kaufen. Wenn ich solche Produkte kaufe, heißt das nicht nur, dass die Menschen einen gerechten Lohn bekommen, sondern man sagt damit auch: „Ich bin nicht einverstanden! Ich möchte gerechte Verhältnisse! Ich möchte zum Frieden beitragen!“
BETTINA SCHIMAK:
Könnten Sie als Bischof ohne internationale Unterstützung weiterarbeiten?
ERWIN KRÄUTLER:
Es ist heute absolut unmöglich, ohne die Unterstützung der Heimat unsere Projekte und Initiativen durchzuführen. Wir sind abhängig davon. Aber ich habe keine Hemmungen, muss ich ehrlich sagen. Wenn es Leuten besser geht, sind sie aufgefordert, mit denen zu teilen, denen es weniger gut geht – wie auch immer das aussehen mag.
BETTINA SCHIMAK:
Können Sie sich vorstellen, mit 75 Jahren zu sagen „Jetzt gehe ich und lege die Füße hoch“?
ERWIN KRÄUTLER:
Nein, ich will nicht so denken. Ich möchte den Weg weitergehen, solange mir der liebe Gott die Gesundheit dazu schenkt. Ich will nicht sagen: „Ich habe mein Pflicht getan!“ Einsatz ist viel mehr: Es geht darum, sich mit diesen Menschen zu identifizieren. Zu sagen: Ich bin mit euch da. Das ist die wunderbarste Botschaft der Menschwerdung Gottes: „Ich bin mit euch – alle Tage bis ans Ende der Welt!“ Wir müssen davon wegkommen, dass wir Menschen als Objekte unserer karitativen Tätigkeit ansehen. Sie sind Subjekte. Sie schreiben ihre eigene Geschichte. Wir können dabei sein, ihnen die Hand reichen, sie umarmen und küssen. Wir stehen nicht drunter und nicht drüber. Die Menschen sollen spüren, dass ich sie gern mag, dass sie mit mir rechnen können, dass ich sie als Subjekte respektiere – als Menschen, die ihre eigene Geschichte haben, ihre eigene Geschichte schreiben – und vielleicht gehöre ich ja auch zu dieser Geschichte dazu.
Mein anderes Leben
Der „Wetten, dass …?“-Kandidat über sein Leben nach dem Unfall
„Der Unfall hat mir gezeigt, dass ich überhaupt nicht frei bin. Dass keiner frei ist, der nicht wirklich erkennt, dass er abhängig ist!“
Millionen Menschen sitzen vor den Fernsehgeräten, als Samuel Koch am 4. Dezember 2010 in Düsseldorf bei der Sendung „Wetten, dass …?“ versucht, mit Sprungfedern an den Füßen über ein Auto zu springen. Er verunglückt dabei schwer. Seither ist der Schauspielstudent vom Kopf abwärts gelähmt.
In den vergangenen drei Jahren hat Samuel Koch verblüffende Fortschritte gemacht. Er nimmt sein Studium in Hannover an der Hochschule für Musik, Theater und Medien wieder auf. An den Unfall denkt er oft zurück: „Man geht schon immer wieder mal im Kopf durch, was man falsch gemacht haben könnte“, erzählt er. Weshalb er jedoch zu flach abspringt und deshalb mit dem Kopf das Dach des Autos touchiert, kann er nicht sagen. Monatelang trainiert er für den Sprung – mehr als 500 Sprünge absolviert er unfallfrei, bevor das Unglück passiert. Heute blickt Samuel Koch nach vorn. Ist überzeugt davon, zum Beispiel als Regisseur oder Journalist sein eigenes Geld verdienen zu können.
Samuel Koch hatte seit jeher großes Vertrauen. Dieses Vertrauen ist tief verankert. Der querschnittgelähmte Tetraplegiker8 ist gläubiger Christ. Selbst knapp vor dem Sprung bei „Wetten, dass …?“ denkt Samuel Koch an Gott. In seiner Biografie9 beschreibt er diesen Moment:
„Wieder der Psalm in meinem Kopf und meinem Herzen. Ich gebe meinem Vater das Zeichen. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal … er bestätigt es mir … fürchte ich kein Unglück … linker Fuß … denn du bist bei mir … rechter Fuß, linker Fuß, Einsprung, Absprung – hoch in den Salto! Ein Knall. Nacht.“
Nach dem Unfall kommt er ins Zweifeln – wo Gott ist, warum er ihm das antut. Seinen Glauben jedoch wirft Samuel Koch nicht ab – im Gegenteil: „Klar gibt’s Phasen, wo Gott hinterfragt wurde, was das soll, aber letztendlich hat das eher den Glauben intensiviert“, sagt er. Weshalb er, nach all dem, was passiert ist, an einen liebenden Gott glauben kann? „Ja, das frage ich mich auch! … Aber ich bin mir sicher, dass Gott nicht will, dass wir leiden oder dass es Leid auf der Welt gibt!“ Dass Gott dem Menschen den freien Willen geschenkt hat, habe eben zur Konsequenz, dass es auch zum Chaos und zu Katastrophen kommen kann, ist der 26-Jährige überzeugt.
Der Filmemacher MICHAEL CENCIG hat im Dezember 2012 Samuel Koch in Hannover getroffen und ein Porträt10 über den jungen Mann gestaltet. Dafür hat er mit Samuel Koch das folgende Interview gemacht. Im Fokus stand Persönliches von Samuel Koch, sein Zugang zu Weihnachten und dem Fest des heiligen Stephanus, das seit dem 5. Jahrhundert in Erinnerung an das Martyrium des Heiligen begangen wird. Gleich nach dem Weihnachtsfest erinnert es daran, wie nahe Freude und Leid beieinanderliegen können.
MICHAEL CENCIG IM GESPRÄCH MIT SAMUEL KOCH
MICHAEL CENCIG:
Sie haben erzählt, Sie haben vor Ihrem Sprung über das Auto gebetet …
SAMUEL KOCH:
Ja. Ich habe mein Leben lang Sport gemacht. Seit ich fünf, sechs Jahre alt war. Ich habe Wettkämpfe bestritten, später akrobatische Auftritte gehabt. Mit dieser „Autospring-Nummer“ habe ich bereits fünf oder sechs Jahre vor „Wetten, dass …?“ angefangen, hab damit ein bisschen Geld dazuverdient. So wie andere ein Maskottchen vor dem Auftritt küssen, sich bekreuzigen oder was auch immer tun, war mein Ritual, ein Gebet zu sprechen – in welcher Form auch immer. Ich bin christlich aufgewachsen und erzogen worden – ich habe mich später eine Zeit lang zwar davon distanziert, den Glauben aber für mich wiederentdeckt und als meine Wahrheit gefunden. Für mich waren auswendig gelernte Psalmen, die schon in der Bibel vorformuliert sind, am wenigsten hinderlich, während ich mich auf den Sprung konzentrierte. So war es auch bei diesem Auftritt – da hatte ich den Psalm 23 auf den Lippen beziehungsweise im Hinterkopf. Ich habe nur noch die Sekunden in Erinnerung, wo ich anlaufe – auf das Auto zu – und kurz vor dem Absprung endet meine Erinnerung. Da waren eben noch die Worte in meinem Kopf aus dem Psalm 23: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unheil, denn du bist bei mir.“ Und dann: … bums! …
MICHAEL CENCIG:
… dann ist der Faden gerissen …
SAMUEL KOCH:
Ja, das kann man sagen.