BETTINA SCHIMAK:
Wenn man den Namen Bischof Kräutler hört, denkt man zuerst: ein Mann, ständig unterwegs – im Einsatz für seine Gläubigen – in einem Boot auf dem Amazonas, unterwegs im Auto auf den staubigen Straßen. Sie interessieren sich aber auch für Literatur, Musik, klassische Musik …
ERWIN KRÄUTLER:
Es gehört beides zu mir. Ich bin mit dem Boot unterwegs, ich bin – ich weiß nicht wie viele Kilometer – auf der „Transamazônica6“ unterwegs. In unserer Diözese, die die größte Brasiliens ist, gibt es 25.000 Kilometer Straße – rund 100 Kilometer sind davon asphaltiert! Das ist mein Leben. Die Leute haben mir damals, als ich vor über 30 Jahren Bischof wurde, gesagt, sie möchten keinen Bischof, der am Schreibtisch sitzt. Sie wollen einen Bischof, der hinausgeht und am eigenen Leib erfährt, was sie erfahren, wie es ihnen geht. Deshalb bin ich so viel unterwegs.
Die andere Seite von mir ist die Liebe zur klassischen Musik. Ich kann sie nicht missen. Wenn ich auch nicht in die Oper oder ins Konzert gehen kann: Ich kann zumindest eine CD anhören. Ich habe vieles noch im Kopf. Ich kann die ganze Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach auswendig. Wenn Sie mir zwei Takte geben, mach ich weiter! (lacht) Auch Haydn, Mozart, Beethoven – ich hab das alles so oft gehört. Ich lebe damit und ich lebe davon. Hätte ich die Musik nicht mehr, ich glaube, ich wäre tot.
BETTINA SCHIMAK:
Sie sind als junger Priester nach Brasilien gegangen. Sie fühlen sich dort zu Hause. Kann man als Vorarlberger dort überhaupt tatsächlich ganz zu Hause sein?
ERWIN KRÄUTLER:
Ich habe meine Wurzeln nie abgeschnitten. Ich glaube, das wäre gar nicht möglich. Ich bin andererseits überzeugt davon, dass dieser Weg der richtige war, dass ich auch von meinem Volk angenommen worden bin. Ich bin nicht nach Brasilien gekommen, um den Leuten zu sagen, was falsch oder richtig ist. Ich möchte einer von ihnen sein. Ich habe mich bemüht, sofort die Sprache zu lernen, und darf mit gewissem Stolz sagen: Ich kann heute so gut Portugiesisch, dass die Leute nicht erkennen würden, dass ich nicht von dort bin. Ich habe versucht, die Sprache der Indigenen zu lernen. Als ich das erste Mal in ein Indianergebiet gekommen bin, konnte ich kein Wort. Es gab einen Dolmetscher. Doch ich merkte, dass die Indios nur mit dem Dolmetscher verhandelten. Ich stand außen vor. Da habe ich gesagt: „Ich komme nie mehr in die Gemeinde, ohne nicht zumindest das Grundsätzlichste zu können.“ Dann habe ich gelernt. Als ich das zweite Mal in die Gemeinde kam, habe ich einige Worte gesprochen. Die Leute haben mich angeschaut und das schönste Lächeln im Gesicht gehabt und gesagt: „Er kann unsere Sprache!“ Das Problem war dann nur, dass sie kein Wort Portugiesisch mehr mit mir gesprochen haben, weil sie dachten, ich könnte sie ganz und gar verstehen. Das war natürlich nicht so. Aber es hat eine Kommunikation gegeben und die Wellenlänge hat gestimmt. Ich war plötzlich einer von ihnen. Ich wurde von ihnen als Sohn adoptiert. Das war eines der schönsten Erlebnisse in meinem Leben – darüber bin ich heute noch glücklich und stolz darauf.
BETTINA SCHIMAK:
Wenn man als katholischer Bischof diesem Volk begegnet, könnte man vermuten, dass es darum geht, diesen Menschen das Christentum zu bringen. Wie begegnen Sie diesen Menschen mit ihrer eigenen Spiritualität, mit ihrer eigenen Wahrnehmung der Welt und des Göttlichen?
ERWIN KRÄUTLER:
Ich bin kein religiöser Kolonialist. Ich bin davon überzeugt, dass jedes Volk seine spezifischen religiösen Ausdrucksformen hat. Ich glaube nicht, dass es irgendein Volk auf der Welt gibt, das nicht irgendeinen Gottesbezug hat. Den gilt es zu entdecken. Wie denken die Leute? Wie fühlen sie? Wie erfahren sie Transzendenz? Wie erfahren sie das Göttliche? Es geht nicht, dass ich hinkomme und ihnen sage: „So hat das zu sein!“ Ich muss die Leute dort abholen, wo sie sind. Nicht um ihnen etwas zu zeigen, sondern um mich in ihre Situation, in ihren Glauben hineinzuleben. Jeder Glaube ist offen für neue Impulse. Es geht nicht, dass wir meinen, wir haben alles und können den Leuten ein Christentum im abendländischen Gewand überstülpen. Es geht darum, Gott zu finden.
BETTINA SCHIMAK:
Diese Völker sind großer struktureller Gewalt ausgesetzt. Sie sind als Vorsitzender des Indianerrates der Bischofskonferenz für diese Völker verantwortlich. Wie steht es um diese Völker?
ERWIN KRÄUTLER:
Als ich 1965 nach Brasilien gekommen bin, sagte mir jemand: „Bitte verwenden Sie kaum Zeit für die Indios. Die gibt es in 20 Jahren nicht mehr.“ Für mich war das eine kalte Dusche. Ich habe mir gedacht: „Nein, das darf nicht wahr sein, auf keinen Fall!“ Ich habe mich seither eingesetzt. Wir haben die Indianergesetzgebung in die Verfassung gebracht. Wir haben uns so dafür eingesetzt, dass ich das beinahe mit meinem Leben bezahlen musste. Heute sage ich freudig, dass sich die Indianer verfünffacht haben. Früher haben sich die Indios beinahe geschämt, diesem Volk anzugehören. Heute sind sie stolz, diesem oder jenem Volk anzugehören. Die Indios haben ein Recht auf ihre Kultur, auf ihre Sprache. Das war nicht selbstverständlich. Man hat ihnen verboten, in der Schule ihre Sprache zu sprechen. Heute ist das Gott sei Dank anders.
BETTINA SCHIMAK:
Im biblischen Magnificat7 preist Maria Gott als den, der sich allen Machtlosen und Hungernden zuwendet, um sie aufzurichten, die Mächtigen und Reichen jedoch vom Thron stürzt …
ERWIN KRÄUTLER:
Die Mächtigen vom Thron stürzen und die Niedrigen erheben bedeutet, dass alle ein Recht auf Leben haben. Es darf in einer Gesellschaft keine Armen geben. Wenn es Arme gibt, ist das ein Zeichen dafür, dass es Ungerechtigkeit gibt. Armut ist kein Schicksal – Armut wird gemacht. Jemand trägt dafür Verantwortung. Wir müssen immer fragen: „Warum ist diese Frau, warum ist dieses Kind, warum ist dieser Mann, warum ist diese Familie arm?“ In Amazonien sind die Menschen arm, weil sie verfolgt wurden, weil sie von Grund und Boden vertrieben wurden. Weil man ihnen das Notwendigste zum Leben genommen – gestohlen – hat. Weil man anstelle von kleinen Familienbetrieben riesige Plantagen gebaut hat und die Menschen auf die Straße gejagt hat. Ich frage mich immer, wenn ich diese riesigen Plantagen sehe: „Wo sind die Leute, die da gewohnt haben? Wo sind sie?“ Die haben sich an Außenbezirken von Städten angesiedelt – haben dort zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Das ist kein Leben mehr! Das ist Ungerechtigkeit!
BETTINA SCHIMAK:
Gibt es etwas, das man dem entgegensetzen kann?
ERWIN KRÄUTLER:
Ja! Gerechtigkeit! Frieden! Das heißt gerechte Verteilung der Güter. Ich bin absolut überzeugt: Eine andere als diese kapitalistische Welt, die nur hortet und andere ausgrenzt, ist möglich. Das Verdammte in unserer Welt ist, dass Leute ausgegrenzt werden. Personen, die überflüssig sind, haben kein Recht. Das ist die Katastrophe! Wir haben als Christen und Christinnen den Auftrag, uns einzusetzen, damit es anders wird!
BETTINA SCHIMAK:
Was heißt dann Gerechtigkeit?
ERWIN KRÄUTLER:
Die Grundaussage von Gerechtigkeit lautet: Jeder Mensch darf leben und muss das Notwendige dazu haben. Gerechtigkeit heißt nicht nur, dass jeder das bekommt, wofür er gearbeitet hat. Also es geht nicht nur um die verteilende Gerechtigkeit, sondern es geht um das Recht auf Leben – von Anbeginn bis zum natürlichen Ende. Damit verbunden ist der Einsatz, damit andere leben können. Gerechtigkeit meint, dass ich dem anderen die Hand gebe, mein Herz öffne, dass