Da das Geschäft mit der Zeit immer mehr in Schwung kam, so mußte meine Mutter noch zwei Gesellen einstellen, wodurch ich etwas Muße zu meinen Liebhabereien gewann. Ich lernte Zither spielen und sang dazu, trieb Geographie und las gern Reisebeschreibungen – die Lust am Wandern fing schon damals an, sich bei mir festzusetzen.
Der Bruder von Musje Minor (so wurde nämlich nunmehro unser Obergeselle genannt) arbeitete in Gotha, etwa nach der Erntezeit im Jahr 1802. Wir hatten ihm einen Besuch zugedacht. Um im Geschäft nichts zu versäumen, fingen wir morgens eine Stunde früher zu backen an und waren um acht Uhr marschfertig. Von Fahren war damals keine Rede; das hieß zu großer Luxus, Chausseen gab’s auch noch nicht hier und bei schlechtem Wetter blieben die Fuhrleute manchmal zehn Stunden unterwegs von Langensalza bis Gotha.
Wir gingen über Henningsleben, Wiegeleben, Hochheim und Goldbach und standen gegen Mittag vor der Stadt. Weil es nun gerade Essenszeit war, wollte Minor nicht gleich seinen Bruder aufsuchen. Wir kehrten drum im Gasthof zum grünen Baum ein und ließen uns Mittagbrot und Bier geben. Ich hatte mir schon ein Tabakspfeifchen angeschafft und obwohl Minor das Rauchen ebensowenig vertragen konnte wie ich, pafften wir, bis das bestellte Essen kam. Nun aßen wir uns recht satt und dachten dann beim Bier noch ein Halbstündchen zu pausieren. Dabei fielen uns die Augen zu; einer nach dem anderen legte den Kopf auf den Tisch. Aber nun! was geschah?
Minor wacht auf, ist betäubt, rüttelt mich am Kopf, ich fahre in die Höhe, weiß aber in der ersten Sekunde nicht, was vorgeht, wir starren uns an – es brannte Licht in der Stube – die Leute lachten. „Nu, ihr Burschen“, sagte die Wirtsfrau, „guten Morgen auch!“ – Es war sieben Uhr abends.
„Was sind wir schuldig?“ – „Soundso viel.“
„Hier liegt das Geld“ – jeder griff zum Stock und wir schoben im Trab den Mohrenberg hinunter. Da es zehn Uhr schlug, waren wir nicht weit vom Lindenbühler Tor. Ungefähr 14 Tage darauf machten wir den Weg nach Gotha noch einmal und da glückte es besser. –
Um diese Zeit wurde in Langensalza die Seidenweberei stark betrieben; die Fabriken beschäftigten über 300 Seidenwirkergesellen und viel Geld war im Umlauf.
Im Böhmen [Vergnügungsort bei Langensalza] gab es oft große Schlägereien unter den Handwerksburschen, worunter auch Bürgersöhne waren. Die Folge davon war, daß die ärgsten Kampfhähne, sofern sie Landeskinder waren, Soldat werden mußten; ein ruhiger Bürgersohn wurde nie dazu angefordert. Wenn aber ein Vater aufs Rathaus ging und klagte: „Herr Bürgermeister, mein Sohn ist ein Schlingel, er kommt besoffen nach Hause, hat seine Mutter geprügelt, ja, sogar gestohlen –“
„Gut, gut“, sagte dann der Bürgermeister, „wie heißt der Sohn und wo ist er zu finden?“ „Da und da.“ – Der Mann ging nach Hause und der Bürgermeister schickte diese Nota dem Militärchef. Oft drei bis vier Stunden darauf kamen zwei starke Unteroffiziere mit derben Stöcken ins Haus, packten den Musje und nahmen ihn mit fort. Er mußte auf dreizehn Jahre zur Fahne schwören und wurde sogleich ins Regiment Prinz Clemens einrangiert.
Viele Soldaten wurden auch durch Handgeld angeworben; aber die mehresten wurden designiert, das heißt, sie wurden vom Magistrat der Militärbehörde als überflüssige, der bürgerlichen Gesellschaft schädliche Subjekte bezeichnet und dann zum Trommelfell kommandiert. Manchmal bekam einer Wind davon, versteckte sich vorläufig und floh bei Nacht und Nebel über die Grenze. Kam solch ein Ausreißer nach Jahr und Tag zurück und führte sich gut, so war das vergessen.
Das war eine löbliche Einrichtung. Wie schön wäre es, wenn kein Fürst der Erde die Macht besäße, Menschen mit Gewalt zu seinem Dienst zu pressen, ausgenommen etwa Sträflinge und anerkannte Taugenichtse; durch Handgeld fänden sich dann auch wohl noch Freiwillige. Auf diese Art wären die Armeen nicht so stark, das Morden und Totschießen nicht so groß und die Verluste zum größten Teil für die Menschheit kaum beklagenswert. Jedoch das sind desideria pia! –
Das Jahr 1803 war herangekommen; es war viel Leben in Langensalza; alle Geschäfte gingen gut. Zehn bis zwölf fremde Bäckergesellen hatten eine Brüderschaft gebildet und die Herberge in den Rautenkranz verlegt, wo auch die Färber und Hutmacher verkehrten.
In diesem Jahre kam ein hochwichtiger Tag für einen Lehrling. Im Juli wurden zwei Färber, Friedrich und Christian Jänisch, ein Hutmacher und meine Wenigkeit zum Ritter geschlagen, das heißt zum Gesellen gemacht. Wir gaben ein Abendessen und Musik bis Mitternacht, tanzten auch tüchtig mit, ob wir gleich kaum 16 Jahre alt waren.
Für mein Alter war ich sehr stark, aber meine Stärke in Schlägereien an den Mann zu bringen, wie in den Schuljahren, das fiel mir nicht mehr ein. Nicht nur, daß man etwas feiner geworden war! Ekel und Furcht vor den Folgen solcher Raufereien waren die Hauptursache, daß man sich zurückzog, sobald man merkte, daß die Bank herausgezogen und Stuhlbeine abgetreten werden sollten.
Um diese Zeit war’s, daß ich einmal ohne Erlaubnis nach Erfurt wanderte. Ich besorgte und packte mir eine Tasche, nahm den Stock in die Hand, kam morgens die Treppe hinunter und sagte: „Adieu, adieu! ich geh in die Fremde.“ Alle lachten, nur meine Mutter nicht. Sie sah mich sehr ernsthaft an und ich wäre beinahe beim Siechhof wieder umgekehrt, so verfolgte mich ihr Gesicht. Dies war die Ursache, daß ich zu einigen Bekannten, die mir begegneten, sagte: „Ich gehe nach Erfurt zum Besuch und bin in einigen Tagen wieder da.“
Nun marschierte ich frisch drauflos. In Erfurt arbeitete Friedrich Hesse, der bei meinem Vater sechs Jahre in Lehre und Arbeit gestanden hatte und 1798 in die Fremde gegangen war. Seit der Zeit war er öfter zu Besuch bei uns gewesen und ich wußte ihn wohl zu finden. Er freute sich über die Maßen, als er mich sah und stellte mich seinem Meister, bei dem er gut angeschrieben war, als seines Lehrmeisters Sohn vor. Ich griff gleich mit zu bei der Arbeit und schlief bei Friedrich Hesse im Bette.
Anderen Tags erzählte ich Hessen, daß ich mich zu Hause ein wenig gezankt hätte und so fast heimlich oder doch ohne Erlaubnis fortgelaufen wäre. Er sprach mit seinem Meister darüber; der brachte mir einen Bogen Papier, Feder und Tinte.
„Damit kannst du alles ins gleiche bringen“, sagte er, „bitte dir nur noch vierzehn Tage Urlaub aus; es soll mich freuen, wenn du sie erhältst und solange bei mir bleibst.“
Ich tat’s in einem langen, demütigen Briefe, den ich ihm vorlesen mußte. Drei Tage darauf kam die völlige Begnadigung von meiner Mutter mit Zugeständnis der erbetenen Frist.
Hesse war als Altgeselle bei der Brüderschaft und Fahnenspieler ein angesehener Bursche in Erfurt. Er zeigte mir die Stadt und wir sahen uns zusammen auch den Dom und die große Glocke an. Ein artiges Mädchen, anscheinend des Kastellans Tochter, führte uns. Ein Trinkgeld nahm sie aber weder von Hesse noch von mir.
Des Abends nun waren wir in Gesellschaft, da sagte eine Färberstochter: „Ei, Herr Hesse, wo haben Sie heute den jungen Herrn hingeführt? Sie kamen ja vom Dom herab.“ – „Ja, ja“, meinte eine andere und wollte sich halb totlachen. „Herr Hesse hat ihm die große Glocke gezeigt.“ „Wie hat Ihnen denn die große Glocke gefallen, junger Herr?“ fragte eine Dritte mit verstelltem Ernst, doch bevor ich antworten konnte, platzte sie beinahe vor Lachen.
„Ich hätte mir die große Glocke größer vorgestellt“, sagte ich schließlich. „Nun“, meinte die Färberstochter, „wenn sie mal ins Regenwetter kommt, wächst sie vielleicht noch ein bißchen“ – und sie kitterte in sich hinein. Ich begriff nichts von diesen Reden, die ich albern fand. Auf dem Heimwege gab mir Hesse die Erklärung. „Die infamen Mädchen haben der Mamsell da oben den Spitznamen ‚große Glocke‘ gegeben“, sagte er, „und weil sie so hübsch ist, haben sie