In der Exerzierzeit im Jahre 1799 saß ich in Quarta hinter der Tafel als Erster, als eines Morgens früh 8 Uhr eine Magd hereinstürmte mit dem Rufe: „Ach, Herrjeses! in der Holzgassen brennt’s!“ Die Tür, die einwärts aufging, war bald verstopft – Tertia saß in derselben Stube – und die Lehrer konnten die Jungen nicht bändigen. Ein großes Fenster, das sich nicht aufmachen ließ, geht Prima gegenüber auf den Gang hinaus. Ich rannte mit dem Ellenbogen eine Scheibe durch, nahm die Scherben heraus und ließ mich hinunter. So war ich der Erste auf der sogenannten Städe gegenüber der Holzgasse. Von da konnte man auf das Dach des brennenden Hauses sehen. Zwischen allen Ziegeln luschten kleine Flammen heraus und aus den Bodenlöchern schlugen sie hoch und dick wie ein Bierfaß.
So etwas hatte ich nie gesehen und so gern ich gleich nach Haus gelaufen wäre, so hielt mich doch dieser fürchterliche Anblick gebannt, bis das Dach zusammenbrach, was keine zehn Minuten dauerte.
Da ein ziemlich starker Südwest blies, war das Mühlhäusertor in Gefahr. Einige Scheuern mit Stroh flammten zuerst auf. Meine Mutter konnte vor Bestürzung nicht viel anordnen; mein Vater hatte den Backofen geheizt und wollte eben backen, da ich kam. Als er hörte, daß das Feuer so groß sei und der Wind auf uns losging, kommandierte er zum Einpacken.
Die erste Lade, die zwei Mann trugen, mußte ich zum Tor hinaus begleiten mit strengem Befehl, nicht davonzugehen, bis mein Vater selbst hinauskäme.
Nicht lange hatte ich da gestanden, so kam das Regiment Clemens im Sturmschritt den Böhmenweg herein. Der Obriste schickte eine Abteilung zum Löschen, eine zum Retten und einen kleinen Teil ließ er unterm Gewehr zur Verfügung der Bürger und zum Bewachen ihrer Habseligkeiten, denn wohl aus vierzig bis fünfzig Häusern lagen die Möbel und Betten draußen. In unserm Hause war nur der eingemauerte Kessel zurückgeblieben.
Als ich meinen Posten eine gute Stunde behauptet hatte, meldete sich der Hunger. Die erste Lade war schon lange nicht mehr zu sehen und mit vielen anderen Sachen überbanst [überpackt, übertürmt].
„Dummer Junge“, sagte ein Soldat, „das Bewachen verstehe ich doch wohl besser als du. Geh, hol dir was zu essen und bring mir auch was mit und einen Schnaps dazu.“ Das tat ich denn auch auf der Stelle. Mein Vater kam selbst mit hinaus und gab mehreren Soldaten Branntwein und Semmeln. In den ersten Nachmittagsstunden war das Feuer getilgt und abends das hinausgeschaffte Gut wieder in unserem Hause.
Abgebrannt waren zwei Häuser in der Holzgasse, ferner von den Häusern bis zu Munds herauf, uns schräg gegenüber, die oberen Stockwerke nebst allen Hintergebäuden und Scheuern.
Um diese Zeit trug sich mein Vater mit dem Gedanken, ein neues Haus zu bauen und es kam auch so weit, daß der Neubau auf das folgende Jahr festgesetzt wurde. –
In Tertia wurden unter dem Kantor Kahlert, dem Vater, Singstunden abgehalten, die auch ich nun besuchte. Es gefiel mir ausnehmend da. Nach 16 Wochen – ich hatte mich in dieser Zeit an einen Mitschüler namens Christel Walter sehr attachiert – wurden wir in die Singchore versetzt. Bei der Auslosung kam Walter in den ersten und ich in den zweiten Chor. Im ersten Chor hieß der Anführer Präfektus, im zweiten Adjunktus. Zu diesen Würden stiegen nur die ältesten Primaner auf, die auf Schullehrerstellen hofften oder von hier aus auch gleich zur Universität abgingen.
Mein Adjunktus war Herr Meister, der später als Schullehrer nach Kirchheiligen kam; der jetzige Superintendent Meister in Heiligenstadt ist sein Sohn. Meister gab auch Privatstunden und mein Vater schickte mich dieserhalb zu ihm. Dadurch hatte ich einen guten Obern. Hinter dem Rathaus, vor Reichardts Hause, sang ich zum erstenmal Solo in einer Aria in motetta im Text:
‚Von des Frühlings Wunderdingen,
Wenn der Winter ausgetobt,
Dir ein Liedchen vorzusingen
Hab’ ich jüngst dir angelobt –‘ usw.
Auf diese Leistung hatte ich einen besonderen Stolz. Meine Stimme war ganz gut, aber ich konnte für Diskant nicht hoch satt [Thüringer Mundart: genug] hinauf und habe nur noch einmal, in der Bergkirche, vorn auf dem Chor Solo gesungen in dem Kirchenstück:
‚Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch,
Daß der König der Ehren einziehe.‘
Nicht lange darauf mußte ich zum Alt übergehen. –
Im Frühjahr 1800 wurde unser Haus abgetragen; mein Vater kaufte noch das kleine Strümpflersche Haus dazu; unser Haus hatte schon zwei Nummern, so wurden alle drei in eins gebaut.
Das Kriegspielen ging noch immer fort, aber ich hatte keine rechte Lust mehr dazu. Damals hing ich gar sehr an meinem Vater und wenn er mir etwas auftrug, so konnte er sich darauf verlassen, daß ich’s pünktlich ausführte.
Bonaparte war Oberkonsul geworden und hatte die Schlacht von Marengo gewonnen, alles schwärmte für ihn; sogar die Schullehrer erzählten uns davon. Ich mußte meinem Vater und dem alten Buschmann zuweilen aus der Zeitung vorlesen; über die Lage der Länder und Städte wußte ich schon ziemlich Bescheid.
Den letzten Winter – 1799 auf 1800 – war ich auch jüngstes Mitglied in einem kleinen Theater geworden und hatte einigemal untergeordnete Rollen zu spielen. Außer mir wirkten noch verschiedene Schüler und vier Mädchen mit, darunter meine älteste Schwester. –
Im Juni 1800 wurde das neue Haus in Holz aufgerichtet und Friedrich Wenk, unser Nachbar vis-à-vis, hielt die Zimmermannsrede. Er stand neben einem großen Tannenbusch hoch oben und ich kuzte [Thüringer Mundart: kauerte] versteckt hinter ihm und machte den Souffleur.
In dieser Stunde kamen drei Nassauer Bäckergesellen vor das Haus, um zuzusprechen und ein Geschenk zu holen. Mein Vater brauchte einen Gesellen, war aber nicht gleich zugegen und meine Mutter sagte: „Die zwei Kerle haben abscheuliche Bärte, fragt doch den jungen, schmalen, ob er nicht Lust zu arbeiten hat.“ Es geschah! Und Christian Minor blieb bei uns. Die zwei anderen waren sein Bruder Wilhelm und einer namens Pelzer aus Bergnassau. Christian Minor zeigte sich geschickt und fleißig und war bald wie zum Hause und zur Familie gehörig.
Anfang September buken wir schon wieder im neuen Hause. Während des Baues hatten wir uns bei Verwandten und Nachbarn beholfen und die Bäckerei so gut im Stand gehalten, wie es ging.
Die Pfefferkuchenbäckerei nahm nun bald ihren Anfang. Jeden Tag wurde bis spät abends gearbeitet. Wenn meine Schul- und Lernstunden vorüber waren, tat ich ein Vortuch um, ging in die Backstube und half meinem Vater, wo ich nur konnte. Er litt an einem heftigen Husten, war aber robust und stark dabei. So ging der Oktober und November hin. Nun aber kam der Dezember; wir konnten nicht satt Pfefferkuchen schaffen. Mein guter Vater wurde krank und mußte endlich ganz von der Arbeit weg und im Bett bleiben. Zur gleichen Zeit lag meine ältere Schwester am Scharlach darnieder. Meine Mutter fiel fast über ihre Beine vor Müdigkeit und Gram und manche Träne mag zwischen die Pfefferkuchen gefallen sein, die sie den Käufern in die Körbe packte.
Ich kam nicht mehr viel aus der Backstube. Dr. Steller und Dr. Stolte waren täglich mehrmals im Hause und der Barbier Schnitzer saß am Bett bei meinem Vater und gab ihm die Medizin. Vielmal des Tages ging auch ich zu ihm, gab ihm die Hand und weinte.
„Bäckt denn der Christian gute Ware?“ fragte er dann wohl leise. „Ja, Vater“, sagte ich. „Nu mach nur hin und arbeite, bis ich wieder gesund bin, da sollst du wieder in die Schule gehn.“
Aber er wurde nicht mehr gesund. Am Abend vor seinem Tode hatte ich nicht aus der Kammer gewollt und war auf dem Fußboden eingeschlafen; die Gesellen hatten mich schlafend hinauf ins Bett getragen. Als sie mich die Nacht zur Arbeit weckten und ich nach meinem Vater fragte, wollten sie nicht mit der Sprache heraus, wodurch ich merkte, daß er tot sei. Als ich eine Viertelstunde bei meinem toten Vater in der Kammer gewesen war, da mußte ich wieder in die Backstube.
Den Sonntag vor Weihnachten wurde mein Vater begraben. Es war Glatteis,