Zum Verbleib der abgetragenen Pyramide samt Herkules legte der Architekt in einer späteren Planung 1944 Rechenschaft ab, als er sich erneut mit Kassel befasste. Für seinen neuen Auftraggeber Rüstungsminister Speer, der angesichts der zerstörten Stadt „Wieder“-Aufbaukonzepte gefordert hatte, erfand Reissinger die Achse der Wilhelmshöher Allee neu, die in zwei Stränge aufgespalten durch eine neue Parklandschaft („Wilhelmshöher Alleenpark“) direkt auf ein vor den Torbauten am Grimm-Platz befindliches Rondell zuläuft. Auf dem Rondell steht ein unterfahrbares (Wilhelmhöher) Tor, auf dem der Herkules samt Pyramide seine neue Heimat findet. Unser Heroe blickt nunmehr vom Endpunkt des neu geschaffenen Parks nach rückwärts auf seinen alten Standort auf dem Karlsberg, von wo ihn die neue Stele mit dem Adler grüßt (Abb. 2). Ob der Herkules nunmehr vom Stadtplaner hier nur abgestellt oder aber von der NSDAP schon mit neuer Sinnunterlegung geparkt war, wissen wir nicht.
Herkules ignoriert und relativiert
Die zerstörte Stadt gab den Hintergrund ab nicht etwa für eine neue Bescheidenheit bei den Stadtplanern, sondern für Jetzt-erst-recht-Pläne, die sich nicht im Geringsten um die tradierten Vorgaben im Stadtraum kümmerten.
So lieferte ein von Speer beauftragter Planer noch 1946 (!) einen Entwurf, der die Kasseler Innenstadt völlig neu erfand mit der Ausrichtung des Stadtkörpers nach einer Magistrale, die vom Friedrichsplatz bis zum Fuße des Rothenbergs verlief. Dieser Einschnitt war so gewaltig dimensioniert, dass die Wilhelmshöher Allee nur mehr als eine Straße unter vielen rangierte.9 Einem Herkules, auf den sich der Stadtplan über lange Jahrzehnte ausgerichtet hatte, war so keine Bedeutung im Stadtbild mehr zugebilligt.
Schließlich waren es die Städtebauer im Rathaus, die in ihrem Plan „Stadtkern neuer Gattung“ 1944 der Wilhelmshöher Allee durchgehend 80 m Breite verpassten,10 was das Doppelte der seit über 100 Jahren gewollten, in den Fluchtlinienplänen seitdem festgelegten Breite von ca. 40 m entsprochen hätte. Am westlichen Ende dieser Schneise hätte ein Herkules aber wohl nicht mehr die Figur abgegeben, die sie einmal als dramaturgischer Endpunkt eines perspektivischen Blicks im wohl proportionierten Straßenraum bedeutet hatte. Die sich dem heutigen Blick in den Bergpark bietende, wohl angemessene räumliche Ausprägung der Allee mit dem 40 m-Profil ist bekanntermaßen nur den Kriegszerstörungen und ergänzenden Abrissen aus den 1950er- bis 1970er-Jahren geschuldet.
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1 Fritz STÜCK, Kassels städtebauliche Zukunft, in: Städtebau 25 (1930), S. 480, zit. in: Folckert LÜKEN-ISBERNER, Fritz Stück und die Stadtplanungsdiskussion in der Weimarer Republik, Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte Bd. 40, Marburg 1990, S. 226.
2 Ebd, S. 228.
3 Plan: Fritz STÜCK, Das Groß-Kassel der Zukunft, Die Waldrandstraße – Die Grünflächen, 1.7.1927, Hessisches Staatsarchiv Marburg, M 49 P II, 62–6.
4 Kasseler Post vom 22.5.1927. – Plan: Fritz STÜCK, Das Groß-Kassel der Zukunft 9, Der Habichtswald, 1.6.1927, Hessisches Staatsarchiv Marburg, M 49 P II, 62-9.
5 Regierungsrat HEMPEL, Ein Großstadtprojekt Kassel-Wilhelmshöhe, in: Die Gartenkunst, 12 (1927), S. 189–195, hier 189ff.
6 Kassel als Station der Autofernstrasse, aus der Denkschrift eines Vorstandsmitgliedes der Gesellschaft HaFraBa, Kasseler Post vom 1.9.1927, zit. in: Folckert LÜKEN-ISBERNER, Fritz Stück, S. 239.
7 Kasseler Tageblatt vom 31.8.1927, in: Hafraba in Kassel, Regiowiki (1.4.2014).
8 Plan: Emil POHLE (Stadtplanungsamt Kassel), ohne Titel (Perspektive Wilhelmshöher Allee), 1942, Stadtarchiv Kassel, A.61.2,19.
9 Plan: Friedrich HETZELT, ohne Titel (Generalbebauungsplan Wiederaufbau Kassel), Januar 1946, Stadtarchiv Kassel, A.6.16.2,16.
10 Plan: Erich HEINICKE, Emil POHLE (Stadtplanungsamt Kassel), ohne Titel (aus der Serie: Stadtkern neuer Gattung), Ende 1944, Stadtarchiv Kassel, A.6.61.2,60
Alle in den Anmerkungen zitierten Pläne sind abgebildet und textlich ausführlich in ihrem historischen Kontext gewürdigt in: Folckert LÜKEN-ISBERNER, Große Pläne für Kassel 1919–1949, Projekte zu Stadtentwicklung und Städtebau, Marburg/L. 2016.
The Versailles of Germany: Der Kasseler Herkules in internationalen Enzyklopädien
Sabine Naumer
Als weit sichtbare Marke nadelt sich der monumentale Mann aus Metall als Wahrzeichen Kassels in den Himmel. An der Autobahn wirbt die Stadt mit einem Welterbepiktogramm, das Herkules, Oktogon und Kaskaden repräsentiert. Um herauszufinden, ob und wie der Kasseler Koloss im Laufe der Jahrhunderte außerhalb der Stadt wahrgenommen wurde, werden in chronologischer Folge ausgewählte Allgemeinenzyklopädien konsultiert. Wird der Herkules in Universallexika erwähnt, beschrieben, bewundert, vielleicht sogar abgebildet? Gehört er damit zur Allgemeinbildung? Wenn ja, seit wann?
Zwei Jahre nach der Aufstellung der Herkulesfigur erscheint 1719 Johann Hübners ‚Reales Staats-, Zeitungs- und Conversationslexicon‘ in der 9. Auflage. In dem einbändigen Werk haben Schloss und Lustgarten namens „Weissenstein“ einen eigenen Eintrag. Nach einigen Worten zur Lage des Schlosses heißt es hier: Dabei ist auf dem sehr hohen Berge des Habichtswaldes oder so genannten Winterkastens eine kostbahre und rare Grotte und Thurm erbauet.1 Die kurz vor dem Erscheinungsdatum vollendete Herkulesfigur fehlt in dieser Beschreibung, was vielleicht lediglich dem Redaktionszeitraum geschuldet sein könnte.
Ähnlich verhält es sich in Hübners gleichnamiger Ausgabe von 1737. Es folgt im Artikel über „Cassel“, nach der Erwähnung der Gärten an der Orangerie, ingleichen das eine Stunde davon gelegene Schloß Weissenstein mit seinen vortrefflichen Fontainen und Cascaden sehenswürdig.2 Kein Herkules. Im separaten Eintrag zum Weißenstein, der nun noch ausführlicher die Wasserkünste beschreibt, ist auch 20 Jahre nach der Aufstellung der Herkulesfigur diese keine Erwähnung wert.3
In den Jahren 1732 bis 1764 erscheint der ‚Zedler‘. Mit 64 großformatigen Bänden ist es die eindrucksvollste deutschsprachige Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts. Über den Weißenstein ist zu lesen: Weissenstein, ein Fürstliches Schloß und Lust-Garten in Nieder-Hessen, eine Stunde, oder eine Meile, von Cassel, und dem Landgrafen von Hessen-Cassel gehörig, auf welches der Landgraf Carl viele Tonnen Goldes verwendet hat. Die es gesehen haben, können sonderlich die Grotten, Fontainen und Cascaden, nicht genug bewundern. Denn da ist auf dem sehr hohen Berge des Habichtwaldes, oder Habuchswaldes, oder des Winter-Kastens, (wie die dasige Gegend genennet wird) eine