Auch in Herrmann Wageners ‚Neuem Conversations-Lexikon‘ findet man die Wilhelmshöhe im Artikel über Kassel: In dem genannten Jahre wurde das Octogon begonnen, und im Jahre 1717 mittels Aufsetzung der kupfernen Statue des Herkules („des großen Christoph“, wie das Volk spricht) vollendet […].26
In ‚Chamber‘s Encyclopaedia‘ (1859–1868), eine für den englischen Bedarf überarbeitete Übersetzung des deutschen Brockhaus, erhält „Cassel“ einen knappen Abschnitt, in dem allerdings die Wilhelmshöhe nicht zu kurz kommt; diese wird gerühmt als the Germain Versailles, with their splendid fountains and cascades, and the colossal statue of Hercules, within the hollow of whose club eight persons can stand at one time […].27 Wenn die Wilhelmshöhe berücksichtigt wird, dann fehlt inzwischen auch nicht mehr der Herkules, dessen gigantische Größe am Ausmaß der begehbaren Keule verdeutlicht wird. Die Wilhelmshöhe sometimes called the Versailles of Germany ist auch in der 9. Auflage der ‚Encyclopaedia Britannica‘ (1875–1889) Teil des zweispaltigen Artikels über „Cassel“: […] and at the top is an octagon building called the Riesenschloss, surmounted by a colossal copper figure of the Farnese Hercules, 31 feet high, whose club alone is sufficiently capacious to accommodate from eight to ten persons.28
Im späten 19. Jahrhundert entsteht der mit Daten und Fakten angereicherte neutral-sachliche Lexikonstil. In Pierers ‚Konversations-Lexikon‘ von 1893 ist der Artikel über Wilhelmshöhe kurz. Zum Bergpark heißt es: Auf dem höchsten Punkte desselben erhebt sich das achteckige Riesenschloß (Oktogon), ein aus drei riesigen übereinander gestellten Tonnengewölben bestehender Bau, deren oberstes von 192 gekuppelten Säulen getragen wird. Auf der Plattform erhebt sich auf einer 31m hohen Pyramide die aus Kupfer getriebene Nachbildung des Farnesischen Herkules.29 Ähnlich zahlenlastig fällt die Beschreibung in der 14. Auflage des Brockhaus von 1908 aus, in welcher der Herkules immer noch den Beinamen „Der große Christoph“ trägt.30
Wilhelmshöhe wurde 1928 eingemeindet und damit Stadtteil von Kassel. So findet man konsequenterweise die Wilhelmshöhe in der 15. Auflage des Brockhaus von 1931 nicht mehr als selbständigen Eintrag, sondern als „Hauptanziehungspunkt“ der „Umgebung“ von Kassel. Die wesentlichen Fakten zu Schloß, „Hochwaldpark“ und Herkulesfigur werden umstandslos referiert. Illustriert wird der Kasselartikel mit zwei Fotografien, wovon eine den Herkules mit den Kaskaden zeigt.31
Für die ‚Enciclopedia Italiana di scienze, lettere ed arti‘ von 1933 krönt die Herkulesfigur den Park: A 4 km a O. si trova ai piedi ell’erto Habichtswald l’antica residenza estiva dell’elettore (Wilhelmshöhe), nota per i suoi giuochi d’acqua e per i suoi splendidi giardini, coronati dalla grande statua di Ercole.32
In der 24-bändigen 19. Auflage des Brockhaus (1990) reduzieren sich die Informationen zur Wilhelmshöhe auf neun Zeilen. Die Statue des Herkules gilt jetzt als „Wahrzeichen der Stadt“, was durch eine farbige Fotografie des Herkules über schäumenden Wasserkaskaden und unter blauem Himmel untermalt wird.33
Selbstverständlich wird der Wikipediaartikel über Kassel von einer Herkulesfotografie begleitet. Mehrfach wird der Herkules als Wahrzeichen der Stadt bezeichnet.34
Die chronologische Sicht auf die Erwähnung der Herkulesfigur in Allgemeinenzyklopädien zeigt, dass Schloss und Park Wilhelmshöhe bzw. ursprünglich der Weissenstein vom separaten Eintrag im Laufe der Zeit in das Lemma Kassel hinüberwachsen. Die Einzigartigkeit des Ortes wurde in der Vergangenheit vor allem in der Einfügung der großartigen Wasserkünste in die natürliche Topographie gesehen. Der Gegenstand unserer Recherche, die Herkulesfigur, findet ihren Platz allerdings erst 80 Jahre nach ihrer Errichtung in den einschlägigen Nachschlagewerken. Von da an gewinnt der Herkules an Wahrnehmung, Ansehen und Bedeutung. Die Eingemeindung von Wilhelmshöhe fällt zeitlich zusammen mit illustrierenden Abbildungen in den Nachschlagewerken, sodass ab den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts der Herkules mit den Kaskaden das Paradebild für Kassel abgibt. Vom Abbild zum Wahrzeichen ist es nur noch ein kleiner Schritt. Der Herkules rückt damit von der zunächst vergessenen zur sachlich vermessenen Randfigur und schließlich zum abgebildeten Wahrzeichen der Stadt Kassel auf und nicht nur deswegen gehört er auf jeden Fall zur Allgemeinbildung.
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1 Johann HÜBNER, Reales Staats-, Zeitungs- und Conversationslexicon, 9. Auflage, Leipzig 1719, Sp. 2014.
2 Johann HÜBNER, Reales Staats-, Zeitungs- und Conversationslexicon, neue mit nöthigen und nützlichen Kupfern versehene Auflage, Leipzig 1737, Sp. 396.
3 Ebd., Sp. 2176.
4 Vgl. in diesem Buch Siegfried HOSS und Andreas SKORKA, Herkules als Landmarke und als Aussichtspunkt.
5 Johann Heinrich ZEDLER, Großes vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Halle–Leipzig 1732–1754, 64 Bände, Bd. 54, 1747, Sp. 1403-1404.
6 Denis DIDEROT, Jean Le Rond D’ALEMBERT, Encyclopedie, ou dictionnaire raisonnè des sciences, des arts et des métiers, Paris 1751–1772, 28 Bände, T. 2, 1751, S. 746.
7 Für den freundlichen Hinweis danke ich Christian Presche.
8 Johann Georg KRÜNITZ, Ökonomisch-technologische Enzyklopädie, Berlin, 1773–1858, 242 Bände, Bd. 20, 1780, S. 149, (elektronische Ausgabe der Universitätsbibliothek Trier http://www.kruenitz.uni-trier.de/).
9 Ebd., Bd. 81, 1801, S. 773.
10 Ebd., Bd. 81, 1801, Fig. 1073.
11 Ebd., Bd. 93, 1803, S. 676.