Regime-Gegner aus kirchlichen Kreisen, wie beispielsweise Kaplan Karl Kunkel aus Ostpreußen, der 1944 von der Gestapo verhaftet und 1945 aus dem KZ Dachau befreit wurde, trugen einen roten Winkel. Sie wurden als politische Gefangene eingestuft.
Hier meldet sich meine innere Stimme ganz intensiv zu Wort. Wie schön, ich darf auf sie hören. Ich frage mich, warum hat meine Mutter nicht protestiert? Sie war doch eine sehr gläubige Frau. Ich habe sie auf unserem Weg durch Ungarn und Österreich, als wir auf der Flucht waren, unzählige Male in Kirchen und Kapellen gehen sehen. Sie hat Gott um Schutz angefleht. Ich möchte glauben, dass wir es nur ihrem Gottvertrauen und der Kraft und Zuversicht, die sie daraus schöpfte, verdanken, dass wir die hunderte Kilometer zu Fuß durch Feindesland lebend überstanden haben.
Aber ja, es stimmt auch, dass meine Mutter zusehen musste, wie wir drei Mädchen im Alter von vier, fünf, und sieben Jahren während der acht Monate im Flüchtlingslager an den Rand des Hungertodes kamen. Sie selbst war auf fünfundvierzig Kilo abgemagert. Sie vermisste ihre Eltern und Geschwister. Sie stand zwischen Baum und Borke in unserem neuen Zuhause. Die Schwiegermutter ließ sie nach wie vor spüren, dass sie nicht die standesgemäße Schwiegertochter war. Sie hatte für ihren Sohn die Erbin einer Schreinerei auserkoren. Mein Vater hatte ein Loyalitätsproblem. Zu wem sollte er halten? Zu seiner Frau oder zu seiner Mutter und seinen Geschwistern? Meine Tante hatte dafür gesorgt, dass die Familie meines Vaters nahe zusammenrückte. Es war geradezu eine Kolonie von ehemaligen Freunden und Verwandten aus Tscherwenka. Meine Mutter, die mittellose Komödiantin aus Stanischitsch blieb die Geduldete.8
Oh ja, meine Mutter war traurig, einsam, verzweifelt. Auch ihre elementaren Bedürfnisse waren bedroht. Es ging um ganz normale Dinge wie Essen, Trinken, ein Dach über dem Kopf haben, Stabilität und Sicherheit, sowie die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Sie war sogar sehr anfällig für die Schmeicheleien, die sie in dieser neuen Gruppe erfuhr. Hier wurde sie willkommen geheißen. Mit dem permanenten Hinweis: „das steht in der Bibel“ wurde das Vertrauen meiner Mutter sehr schnell gewonnen. Das gaukelte ihr Stabilität und Sicherheit vor. Sie glaubte, dass die Bibel das Wort Gottes ist. Die Hoffnungsbotschaft, dass es sehr bald mit aller Ungerechtigkeit ein Ende haben würde und danach niemand mehr krank würde, niemand mehr zu hungern brauchte, dass jeder sein eigenes Haus, seinen Weinstock und Feigenbaum hätte und er nie mehr von dort vertrieben würde, denn „Kriege lässt er aufhören für immer“ verspricht die Bibel, hörte meine Mutter nur allzu gerne. Meine Mutter klammerte sich immer mehr an diesen Strohhalm der verlockenden Versprechungen.
Zu den Methoden der Manipulation gehört es, sich mit einer höheren Instanz zu sozialisieren. Einerseits wird die Bibel als von Gott inspiriert zur Autorisierung der eigenen Aussagen verwendet und andererseits die Verantwortung für die Erfüllung der Versprechungen auf Gott abgewälzt.
Meine Mutter vertraute mit ganzem Herzen darauf, dass ihr Die Wahrheit überbracht wurde.
Doch was war mit mir und meinen Geschwistern? Warum war ich so schnell begeistert? Warum wollte ich unbedingt ebenfalls zu dieser Gruppe gehören?
Wenn ich es recht überlege, dann habe auch ich mich von Schmeicheleien und Versprechungen einfangen lassen. Ich war in der Schule das arme Heidenkind. Meine Lehrerin ließ die Klasse sogar jeden Morgen ein Extragebet für mich beten. Ich war die einzige evangelische Schülerin in dieser katholischen Klasse. Anfangs hatte ich noch nicht einmal Schuhe. Ich musste barfuß zur Schule gehen. Mit meinem zerschlissenen Kleid und einem Schulranzen aus Holz, den mein Vater gemacht hatte, fiel ich wirklich auf. Ich schämte mich. Ich wurde von der Wiese mit einem Knüppel verjagt, wenn ich nur einige Sauerampfer für die Suppe pflücken wollte. Sollte ich, nur weil ich noch ein Kind war, keine Grundbedürfnisse haben dürfen? Auch ich wollte nie mehr hungern, oder diese scheußliche Sauerampfersuppe essen müssen. Ich wollte nie wieder Angst davor haben müssen, dass wir von Grenzposten erwischt und erschossen werden. Ich wollte zu einer Gemeinschaft dazugehören und nicht das ausgegrenzte arme Heidenkind sein. Ich sehnte mich nach Achtung und Anerkennung.
Zu den Methoden der Manipulation gehört die Gefühlskontrolle. Die Sehnsucht nach Anerkennung innerhalb einer sozialen Gruppe wird durch das Versprechen befriedigt, dass man Anerkennung und Glück nur innerhalb der Gruppe finden wird.
Die Bibelforscher waren freundlich zu uns. Sie machten mir Komplimente und lobten mich überschwänglich, wenn ich eine Frage aus ihrem Studienbuch richtig beantwortete. Um diese Anerkennung zu bekommen, lernte ich begierig. Ich beobachtete meine Eltern und ahmte sie nach. Auch ich vertraute bald und glaubte, dass die Zeugen Jehovas Die Wahrheit hatten, denn sie konnten sogar voraussagen, dass wir von unserer Verwandtschaft, von Freunden, Arbeitskollegen und Mitschülern für unseren neuen Glauben verspottet würden. Das wäre der Beweis, dass wir die wahren Nachfolger Christi seien9, denn er sagte selbst:
„Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen.“10
Nun gab es auch für mich eine Sache, in der ich viel reicher war als alle anderen. Ich kannte Die Wahrheit. Ich konnte damit einem Gebot der Bibel folgen:
„ … sammelt euch aber Schätze im Himmel wo weder Motte noch Rost zerstört.“11
Wieder solche Zitate aus der Bibel, die uns das Gefühl gaben, diese Offenbarung und Auserwählung direkt von Gott bekommen zu haben. Unglücklicherweise reagierte die Bevölkerung damals sehr kontraproduktiv. Auch die Vertreter der Kirchen machten Stimmung gegen die Haus zu Haus Tätigkeit und wetterten dagegen von den Kanzeln. Sie ließen sich von den provokanten und beleidigenden Veröffentlichungen in den Wachtturmschriften, in denen Religion als Gimpelfang angeprangert wurde und die Kirche – allen voran die katholische – als Komplizin von Politik und Kapital beschimpft wurde, dazu verleiten. Das bestärkte uns in unserer Überzeugung, wir würden um Christi Willen verfolgt. Statt mit vernünftigen Argumenten aufzuklären, wurde eher eine gegnerische Stimmung verbreitet. Das hatte zur Folge, dass wir oft von Steinewerfern aus einem Dorf verjagt wurden oder dass die Reifen unserer Fahrräder aufgeschlitzt wurden. Wir wurden beschimpft und von den Grundstücken verjagt. Das alles nahmen wir als Zeichen dafür, dass wir Die Wahrheit verkündigten und Satan der Teufel mit seinen Dämonen versuchte, mit Hilfe seiner Untertanen, den Menschen der bösen Welt, unseren Glauben zu schwächen. Das entsprechende Bibelzitat schien diese Logik zu bestätigen:
„ … euer Widersacher, der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge“12.
Damals wurde uns oft in kämpferischen Vorträgen geraten: Wenn man euch vorne zur Türe hinausschmeißt, dann versucht zur Hintertür wieder das Haus zu betreten, um herauszufinden, ob jemand im Haus wohnt, der zur guten Botschaft richtig eingestellt ist. Es wurde uns eingeschärft, dass wir die Verantwortung für die Rettung der Menschen in unserem Gebiet trugen. Auch dafür gab es einen Bibeltext aus Hesekiel, der besagte, wir seien als Wächter berufen.13 Wenn wir die Menschen nicht vor der Vernichtung warnten, würden wir Blutschuld auf uns laden und dann würden auch wir vernichtet.
Kapitel 2 DIE UNSICHTBAREN KETTEN
Völlig in meine Gedanken vertieft sitze ich an meinem Arbeitsplatz vor dem PC. Seit mein Mann und ich in Rente sind, habe ich ein Drittel unseres geräumigen Wohnzimmers beansprucht. Ich habe es in einen Multifunktionsraum umgestaltet. Das mittlere Drittel des Raumes gehört der Sitzgruppe mit Fernseher für die gemütlichen Abende und das hintere Drittel gegenüber der Fensterfront, die die ganze Breite des Raumes einnimmt, ist der Essplatz. Ich genieße den Blick auf die Pflanzen am Balkon. In diesem Jahr habe ich mir ein Miniaturparadies geschaffen. Ich habe die wartende Haltung aufgegeben. Sie hat mich mein ganzes Leben lang blockiert und davon abgehalten auf die Stimme meiner Seele zu hören.
Das hatte durch die Paradiesversprechungen funktioniert, wie sie zu Tausenden in den Veröffentlichungen der Wachtturm-Gesellschaft nachzulesen sind. Sie folgen bis heute immer dem gleichen Muster. Zum Beispiel im Wachtturm vom 15. September 2012:
Titel: „Frieden für tausend