Allein dieser eine Artikel enthielt so viel Negatives über das Schulleben und seine Auswirkungen. Natürlich war es da kein Wunder, dass mein Vater strikt gegen den Besuch einer höheren Schule war. Ob die Beschreibung der Zustände an den Universitäten zutreffend war oder nicht, konnte mein Vater nicht beurteilen. Als Kriegshalbwaise konnte er schon von Glück reden, dass seine Mutter ihn nach vier Schuljahren in eine Handwerkslehre gegeben hatte.
Viele akademische Berufe wurden uns im Übrigen so dargestellt, als wären sie für das neue Paradies völlig sinnlos, da es dort weder Krankheit noch Rechtsstreitigkeiten gäbe und auch alle Menschen wieder eine gemeinsame Sprache hätten und vollkommen würden. Ein Universitäts-Studium hätte für die Zeit nach Harmagedon einfach keinen Wert.
Aber war die mangelnde Bildung wirklich der Grund dafür, dass mein Vater dem Überbringer dieser neuen Lehre mehr glaubte als meinem Lehrer? Wieso hat er sich nicht gewundert, dass unsere Lehrer, Ärzte, Apotheker, Architekten und andere Hochschulabsolventen weder unsittlich noch kriminell oder gottlos waren? Auch war das Ehepaar, das bereits vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges mit den Bibelforschern in Verbindung stand, ganz gewiss nicht ungebildet. Sie hatten eine Bäckerei und wurden bald unsere Gönner als wir begannen, regelmäßigen Kontakt mit der Gruppe zu pflegen. Ich ging oft mit ehrfürchtigem Staunen in deren Bibliothek und betrachtete die vielen Bücher. Den großen Brockhaus, die jüdische Geschichte von Josephus, die Werke von Schiller und Goethe, sowie viele Klassiker der Literaturgeschichte. Diese Leute waren sowohl gebildet als auch tief gläubig. Die Frau sagte jeweils: „Ob einer oder keiner, viele oder wenige, es glauben oder nicht glauben, spielt für mich keine Rolle. Wir können sicher sein, dass Gott seinen Vorsatz verwirklichen wird.“ Auch sie glaubte daran, dass sie in der Wahrheit seien.4
Der Ausdruck „Die Wahrheit“ wird bei den ZJ als absoluter Begriff verwendet. „Wenn eine Gruppe diese ausschließlich für sich beansprucht, wird es zum Dogma. Es wird keine alternative Möglichkeit zugelassen. Das ist eine Methode der Immunisierung gegen kritisches und eigenständiges Denken.“ (Aa W, S. 27,28)
Ich habe mir inzwischen einen ganzen Stapel Bücher besorgt, in denen ich nach Antworten auf meine vielen Fragen suche.
Eine mögliche Erklärung gibt mir M. T. Singer5 mit dem Hinweis,
„dass jeder von uns für Schmeicheleien, Täuschung und Verführung anfällig ist, wenn er einsam, traurig und bedürftig ist. Die Menschen sind im Allgemeinen nicht Suchende, sondern die Sekte geht aktiv und aggressiv vor, um Anhänger zu werben.“
Das stimmt schon, mein Vater war alles andere als ein Suchender nach einer neuen Religion. Ganz im Gegenteil. Er hatte sich von seiner Religion losgesagt, weil er enttäuscht war von ihr. Gott hatte den Krieg nicht verhindert, der so viel Leid und Zerstörung über die Menschen gebracht hat, sondern hat sogar noch seine Diener beauftragt, die Waffen zu segnen. Das konnte er nicht verstehen. Er wollte von Religion nichts mehr wissen. Tatsache ist aber auch, dass wir traurig waren, ja traumatisiert, arm, bedürftig und entwurzelt. Unwillkommene Flüchtlinge in einer fremden Welt. Strandgut nach einer unbeschreiblichen Katastrophe, die sich 2. Weltkrieg nannte.
Die Schmeichelei, mit der meine Eltern umgarnt wurden, war verführerisch. Das Argument, dass Jehovas Zeugen sich nicht am Krieg beteiligt hatten und dass sie sogar wegen ihrer Weigerung, das Heil von dem Führer Hitler zu erwarten, im KZ waren, war für meinen Vater so überzeugend, dass er alle weiteren Erklärungen bereitwillig als Die Wahrheit akzeptierte.
Frau Singer sagt:
„In der Anwerbungsphase wird in der Regel mit Täuschungen gearbeitet, und neue Mitglieder haben keinerlei Vorstellung darüber, was von ihnen erwartet wird, wenn sie einmal Mitglied sind. Aus den Berichten vieler ehemaliger Sektenmitglieder weiß ich, dass die Erfahrungen, die sie, im Netz der Gruppe verfangen, gemacht haben, vom ersten Eindruck, den sie hatten, recht verschieden waren.“
Dem kann ich nur voll zustimmen. Mein Vater wäre niemals ein Zeuge Jehovas geworden, wenn er von den Aufrufen in den Wachtturmausgaben von Juni und August 1915 gewusst hätte. Darin wurden die deutschen Bibelforscher ermutigt, den Kaiser dabei zu unterstützen, Jerusalem von den Türken zu befreien. Mein Vater wusste nichts von den Feldpostbriefen, den Namen der Einberufenen und Gefallenen im ersten Weltkrieg, die in den Wachtturm-Ausgaben veröffentlicht wurden.6 In diesem Punkt wurde er über die Rolle der Wachtturm-Gesellschaft im ersten Weltkrieg durch Weglassen von wichtigen Informationen getäuscht.
Er konnte sich auch nicht kritisch mit dem Einfluss der Wachtturmführung bei dem Verbot der Zeugen Jehovas durch das dritte Reich auseinandersetzen. Zum Beispiel der Frage nachgehen, ob die Verweigerung des Hitlergrußes oder eher die Protesttelegramme, die durch die Leitung in Brooklyn veranlasst wurden, der wirkliche Grund für die verschärfte Verfolgung waren. Es könnte auch sein, dass die Haltung der IBV, der Internationalen Bibelforscher Vereinigung, zur Judenfrage der Grund für Hitlers Einschätzung war, dass es sich um eine barbarische Sekte handelt. Jedenfalls hatte die Resolution, die anlässlich ihres großen Kongresses am 25. Juni 1933 angenommen wurde, nicht die erhoffte Wirkung für die Zeugen Jehovas. Obwohl sie darin die Gemeinsamkeiten mit der neuen Regierung herausstellten:
„Eine sorgfältige Prüfung unserer Bücher und Schriften wird deutlich zeigen, dass die hohen Ideale, die sich die nationale Regierung zum Ziele gesetzt hat und die sie propagiert, auch in unseren Veröffentlichungen dargelegt, gutgeheißen und besonders hervor gehoben werden.“ (…) „Anstatt, dass unsere Schriften und unsere Tätigkeit die Grundsätze der nationalen Regierung gefährden, werden in ihnen die hohen Ideale sehr unterstützt.“
Ja sie versuchten sogar darzulegen, dass sie ebenfalls eine antijüdische Haltung hatten:
„Das angloamerikanische Weltreich ist die größte und bedrückendste Herrschaft auf Erden. (…) Es sind die Handelsjuden des britisch-amerikanischen Weltreichs, die das Großgeschäft aufgebaut und benutzt haben als ein Mittel der Ausbeutung und der Bedrückung vieler Völker.“
Im Begleitschreiben, mit dem die Resolution an Hitler übersandt wurde, machte man die „Geschäftsjuden und Katholiken“ für die angebliche Falschdarstellung der IBV verantwortlich.7
Dass es bei dem Verbot nicht allein um die Wehrdienstverweigerung ging, kann man aus der Tatsache ablesen, dass auch Frauen in Konzentrationslager gebracht wurden.
Auch hat mein Vater die Frage nicht klären können, ob sich die Zeugen Jehovas um die Freiheit in unserem Land Gedanken machten und sich dafür einsetzten, wie es zum Beispiel die Widerstandskämpfer um Dietrich Bonhoeffer, die Geschwister Scholl oder Graf Stauffenberg taten, die ungeachtet dessen wie die Mehrheit handelte, wirklich ihrem eigenen Gewissen folgten, oder ob sie lediglich die Wahl hatten zwischen dem Gehorsam gegenüber zwei verschiedenen Diktaturen. Die eine nannte sich Theokratische Herrschaft und behauptete, es sei erforderlich, mit einem gut geschulten Gewissen gegen die Anweisungen der Regierung zu handeln.
Der andere Diktator war der Führer des dritten Reiches.
Es ist keine Frage, dass jedem einzelnen Menschen, dem von diesem Regime Leid und Grausamkeit widerfahren ist, weil er aus Glauben und Gottesfurcht jedes Leid ertragen hat, Respekt und Hochachtung gebührt. Es ist nicht die Aufgabe der Nachfahren darüber zu richten, ob der Einzelne aus Gehorsam, Angst oder ehrlichem Glauben gehandelt hat. Jedes einzelne Schicksal muss als Mahnmal gegen willkürliche Grausamkeit und Missachtung der Menschenwürde gewürdigt und im Gedächtnis der Nation bewahrt werden.
Doch nach meinem persönlichen Empfinden ist es nicht redlich von der Wachtturm-Gesellschaft, nun die Opfer zu ihrer eigenen Verklärung zu missbrauchen - war sie doch der mögliche Auslöser der extremen Verfolgung. Ich erinnere mich an keinen Hinweis in der Wachtturm-Literatur, dass alle aus religiösen Motiven Internierten den lila Winkel trugen und unter dem Sammelbegriff „Bibelforscher“ geführt wurden. Die „freien Bibelforscher“, die sich immer noch