Darüber hinaus unterstützte das Slawenkapitel in diesen Ländern eine allseitige Rezeption des Herder’schen Gesamtwerks.11 Seine Anstöße führten „bei allen slawischen Völkern“ zur Erarbeitung „eigener nationaler Geschichtsbilder“.12
Im geistigen Leben Polens haben vor allem die geschichtsphilosophischen Auffassungen gewirkt, sowohl in der Literatur (bei Autoren wie Michał Dłuski, Leon Borowski oder Kazimierz Brodziński, Adam Mickiewicz oder Zygmunt Krasiński) als auch bei Historikern (Wawrzyniec Surowiecki, Adam Potocki, Ignacy Benedykt Rakowiecki, Joachim Lelewel).
Einige „Wortführer der nationalen Wiedergeburt“ bei den Tschechen und Slowaken nahmen Herder’sche Ideen geradezu enthusiastisch auf. Sie beriefen sich auf ihn als zuverlässigen Anwalt ihrer politischen Kampfziele und kulturellen Projekte (František Ladislaw Čelakovský, Pavel Josef Šafařík, Jan Kollar, František Palacký und andere).
Der nachhaltige Einfluss, den Herder auf die Entwicklung der sorbischen Musikfolklore ausgeübt hat, reicht von der erstmaligen Publikation einiger Volkslieder durch den Gymnasiallehrer Jan Horoćanski (1782/1783) über die ausgedehnte Sammeltätigkeit des Dichters Handrij Zejler bis zur klassischen Volksliedsammlung von Jan Arnošt Smaler und Leopold Haupt („Volkslieder der Wenden in der Ober- und Niederlausitz“, Grimma 1841 – 1843).13
Schon früh und dann lange anhaltend war Herders Name im literarischen Leben Russlands populär. Nikolai Karamsin hatte 1789 in Weimar eine persönliche Begegnung mit Herder und berichtete darüber in seinen „Briefen eines russischen Reisenden“ (Pis’ma russkogo putešestvennika).14 Dieser, wie auch Wassili Shukowski und Gawrila Dershawin, waren von Herders Antike-Rezeption, von seiner Geschichtsphilosophie und von seiner Hinwendung zum künstlerischen Volksschaffen begeistert. Mehrfach übersetzten sie kleine Dichtungen Herders oder ausgewählte Passagen aus den umfangreicheren Prosawerken. Alexander Radischtschew bekundete 1790 bei seinen Verhören in der Peter-Pauls-Festung, Herders Schriften hätten zu den Anregungen gehört, aus denen seine „Reise von Petersburg nach Moskau“ (Putešestvie iz Peterburga v Moskvu, 1790) entstanden wäre; während der Zeit seiner Verbannung nach Ilimsk schrieb er ein philosophisches Traktat („Über den Menschen, seine Sterblichkeit und Unsterblichkeit“, O čeloveke, ego smertnosti i bessmertnosti, 1792), in dem er sich abermals in weitgehender Übereinstimmung mit politischen und erkenntnistheoretischen Positionen Herders zeigte. Während der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts lassen sich auffällige Nachwirkungen Herders eigentlich bei allen wesentlichen Exponenten der russischen fortschrittlichen Literatur aufweisen: bei Alexander Herzen und Timofej Granowski, bei Wissarion Belinski und Nikolai Tschernyschewski. Hier und da werden auch naturwissenschaftliche Fragestellungen durch Herdersche Ideen inspiriert und bereichert. Der Dekabrist Wilhelm Küchelbecker gedachte Herders in einem Gedicht „An Prometheus“ (K Prometeju, 1820), Nikolai Gogol würdigte ihn als Historiker in seinen „Arabesken“ (Arabeski, 1835). Und noch im zweiten Teil des zweiten Buches von Lew Tolstois „Krieg und Frieden“ (Vojna i mir, 1868/1869) dreht sich eines der entscheidenden philosophischen Gespräche zwischen Pierre Besuchow und Andrej Bolkonski gerade um die Lehre Herders.15
1.2.2. Mohrungen, eine preußische Kleinstadt
Beim Überlegen, woher Herder sein großes Verständnis für die Slawen bekam, muss man auf seine Kindheit und Jugend zurückblicken. Zweifellos beruhen seine Kenntnisse auf eigener Anschauung, auf eigenen Einblicken in Lebensweise und Kultur, in Eigenarten und Gesinnungen der slawischen Bevölkerung. Die heimatlichen Quellen dieser Beziehungen wurden in der wissenschaftlichen Literatur nur selten behandelt.16 In der DDR unternahm Ulf Lehmann solch eine Quellensuche: „In seiner ostpreußischen Heimat war Herder in unmittelbarer Beziehung zu einem slawischen Volk, den Polen, aufgewachsen und hatte später von Riga aus die eindrucksvolle Größe des […] Russischen Staates […] bewundert […] Wir dürfen die Perspektive Riga als die Alternative Herders zur Weltabgeschiedenheit des wirtschaftlich unterentwickelten und kulturell zurückgebliebenen ostpreußischen Heimatortes […] verstehen […] Die Rigaer Jahre sind fraglos jener Abschnitt in Herders Entwicklung, dessen Erfahrungen die Basis für seine weitverzweigten Fragestellungen zur Geschichte der slawischen Völker und zur Geschichte insgesamt bilden.“17
Herder wurde 1744 in dem kleinen ostpreußischen Städtchen Mohrungen geboren. Wenn Lehmann und andere Autoren „ostpreußisch“ sagen, dann lassen sie eine geographischpolitische Ungenauigkeit zu. Herders Geburtsort lag gar nicht in Ostpreußen. Sein erster Schritt in diese Welt machte ihn zum Untertan des 1701 entstandenen Königreichs Preußen. Das war ein selbständiger, souveräner Staat außerhalb des Heiligen Römischen Reiches. Sein Territorium umfasste im Wesentlichen und ausschließlich Gebiete des einstigen Staates des Deutschen Ordens zwischen der Memel und der Weichsel. Der Name „Ostpreußen“ wurde erst 1773, nach der ersten Polnischen Teilung, durch Friedrich II. eingeführt. Damit degradierte er das Königreich zur Provinz und spaltete es zum „Doppelpack“ Ost- und Westpreußen. Friedrich II. entwendete dem Land den Königstitel und den alten Namen und wandte beides auf alle seine Territorien bis hin zum Rhein im fernen Westen an. Daher existieren eigentlich zwei Namen „Preußen“. Der Ursprüngliche bezeichnet das alte Ordensland, der andere, künstliche, abgeleitete, das Gesamtgebiet der hohenzollerischen Territorien in Norddeutschland. Um die beiden besser unterscheiden zu können, wurde das Ordensland oft als „Altpreußen“, heute häufig als „Preußenland“ bezeichnet.
In Mohrungen war Herders Vater als Glöckner und Mädchenschullehrer angestellt, zugleich diente er der polnischen Gemeinde als Kantor.18 Infolgedessen muss der kleine Gottfried Kontakte zum Leben dieser Polnisch sprechenden Mitbürger gehabt haben. Zudem lebten in den Dörfern der Umgebung auch polnische Bauern, die ihre Produkte an den Markttagen in der Stadt feilboten. Die polnische Sprache gehörte also schon von Kindheit an zur Lebensumwelt des Jungen.19
Zum Verständnis dieser Situation muss man wissen, dass die Bevölkerung Altpreußens im 18. Jahrhundert aus Deutschen, Litauern und Polen mit deutlich unterschiedenen Siedlungsgebieten bestand. Nationaler Hader war den Preußen, wie sie sich alle verstanden, so gut wie fremd. Eine staatlich oder kirchlich gelenkte Germanisierungspolitik war noch unbekannt.20
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass das 1525 in einem Staatsstreich gebildete Herzogtum Preußen der erste europäische Staat war, in dem die Landesherrschaft die Reformation zur eigenen Sache gemacht hatte. Das wirkte auf die Entwicklung aller drei Sprachgebiete, besonders ihrer Literaturen.
An der 1544 gegründeten Landesuniversität in Königsberg, der Albertina, wurden Polnisch und Litauisch unterrichtet. Sie waren Pflichtfach für Geistliche und Lehrer. Wenn sie ihren Beruf in einem der nichtdeutschen Sprachgebiete ausüben wollten, mussten sie die dort gesprochene Sprache beherrschen. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts erschienen in Königsberg und im masurischen Lyck alle für den Protestanten notwendigen Schriften in Polnisch und Litauisch, dazu geistliche Erbaungsbücher, in Polnisch auch das Neue Testament. Für das Litauische blieb diese Funktion Ostpreußens bis zur Bildung eines eigenen Staates (1918) erhalten.21 Für das Polnische erlosch sie allerdings bereits im 17. Jahrhunderts.22 Der polnische Regionalhistoriker Andrzej Wakar zitierte Tadeusz Grabowski, einen Spezialisten für die polnische Renaissance, wonach das „Herzogtum Preußen die Wiege des polnischen Schrifttums“ war. Er fügte hinzu, das gelte genauso für die litauische Literatur.23 Eine polnische Bibel, der Katechismus, das Gesangbuch und weiteres religiöses Schrifttum könnten also im Herderschen Haushalt alltäglich gewesen sein, Herders Vater muss zudem höchstwahrscheinlich Polnisch beherrscht haben.
Ein Aktenfaszikel mit dienstlichem Briefwechsel von Ortsgeistlichen und Schulbeamten belegt, dass im Kreis Mohrungen noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielen Gemeinden neben der deutschen eine Polnisch sprechende Bevölkerung lebte. Sie saß hier in der sprachlichen Diaspora, außerhalb des geschlossenen masurischen Siedlungsraumes. Ihre Kinder besuchten selbstverständlich die vorhandenen Schulen. Die Gleichberechtigung der Sprachen war zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch so hoch, dass Klassen und einige kleine Schulen mit polnischem Unterricht