Aus dem aktuellen Verlagsprogramm
Vorwort
Es werden nicht viele Bürger der DDR gewesen sein, die in dem Prachtgebäude der Moskauer Lenin-Bibliothek nach der Lösung ihrer Probleme mit der DDR gesucht haben. Wie das bei mir anfing? In den letzten zwanzig Jahren jenes Staates habe ich als Lehrer der russischen Sprache für das Sekretariat der Kreisleitung der SED Stadtroda bei ihren Treffen mit Offizieren des sowjetischen Panzerbataillons in Jena gedolmetscht. Das war eine ehrenamtliche Tätigkeit. Der einzige Vorteil: Wenn einem Genossen auffiel, dass ich keine größere gesellschaftliche Funktion im Landkreis ausübte, konnte ich auf diese Tätigkeit und „die vielen damit zusammenhängenden Verpflichtungen“ verweisen. Das war nur vorgeschoben, denn so arg waren die nicht. Allerdings wurde mir die Sache mit der Zeit interessant: Ich bekam Einblick in Verhalten und Denken dieser ansonsten recht hermetisch abgeschlossenen Menschenwelt. Was ich da erlebte, warf Fragen auf. Den stärksten Anstoß gab ein alltägliches Erlebnis, der begeisterte Bericht des Politstellvertreters des Bataillonskommandeurs. Sein zehnjähriger Sohn hatte in der Universitätsklinik von Jena gelegen. „Das muss ich dir unbedingt erzählen. Ärzte und Krankenschwestern haben sich toll um meinen Sascha gekümmert. Sie waren sehr lieb zu ihm. Sie bemühten sich Russisch zu sprechen, redeten ihm Mut zu, wenn eine Spritze zu setzen war, gaben ihm manchmal einen Bonbon, waren freundlich. Als er entlassen wurde, hat er sogar geweint, weil er die Schwester Gerda ins Herz geschlossen hatte.“ Und dann kam der Satz, der mich als damaligem Genossen recht verletzte: „Ich hätte nicht gedacht, dass die Deutschen sich so für ein Russenkind einsetzen könnten.“ Ich dachte bei mir: „Wo lebst du Genosse denn? Doch in der mit der Sowjetunion brüderlich verbundenen DDR! – Wie kann ein für das politische Bewusstsein von einigen Hundert jungen Soldaten Verantwortlicher derart verquer denken?“ Analoge Beobachtungen machte ich einige Male. Ich merkte, so, wie die SED-Führung uns den Sowjetsoldaten schilderte, sahen die gar nicht aus. Und – wenn schon Offiziere so dachten, was mag sich da in den Köpfen der unteren Dienstgrade abspielen.
Wie war das denn nun 1945? Natürlich hatte ich da „so etwas“ aus dem „Westen“ gehört. Wenn schon höhere Offiziere dergleichen politischen „Blödsinn“ verzapften, was mag der Muschkote gedacht haben, besonders, als er ab Oktober 1944 auf deutschem Boden kämpfte, zuerst in meiner Heimat Ostpreußen. Was für ein Bild von diesen Deutschen mögen ihm damals seine Vorgesetzten gezeichnet haben. Ob an dem (westdeutschen) Schreckensbild von Nemmersdorf1 etwas dran ist? Während eines Fortbildungskurses in Moskau meldete ich mich deswegen in der größten Bibliothek der Sowjetunion an, die direkt neben dem Kreml liegt. Dort ließ ich mir die bedeutendsten Zeitungen des Landes aus jenen Tagen kommen. Sie lagen als Mikrofilm vor. Ich suchte und fand eine Vielzahl von Berichten über die Kämpfe in Ostdeutschland. „Die Partei“ hatte uns jungen Genossen, die heil aus dem Gemetzel des Krieges entkommen waren, gesagt, der Rotarmist habe gekämpft, um den deutschen Arbeiter und Bauern vom Joch des Faschismus zu befreien. Er habe zwischen den braunen Verbrechern und den deutschen Werktätigen unterscheiden können. Jetzt musste ich zutiefst schockiert lesen, der Soldat wurde im Geist eines rabiaten antideutschen Nationalismus erzogen. Krause Gedanken entwickelten sich in meinem Gehirn. Wenn wir in der einen Grundfrage schamlos betrogen worden sind, wie steht es da mit anderen Aussagen? Nehmen wir als Beispiel die „Westliteratur“. Alles Lügengewebe im Auftrage des aggressiven Imperialismus? Kannte ich doch kein Buch aus jener Himmelsrichtung über das damalige Geschehen. In der DDR hätte mir keine Bibliothek so etwas Gefährliches ausgeliehen, nur mit Sondererlaubnis, die ich nie bekommen hätte. Sehen wir einmal nach, ob ich hier etwas über Ostpreußen finde. Ich fand! Und nicht wenig. Der Zufall fügte es, gleich im ersten Titel las ich von Nemmersdorf, dem ersten Ort, in dem im Herbst 1944 die Rote Armee auf deutsche Zivilisten gestoßen war. Meine Haubitzenbatterie hatte den Ort beschossen. Vierzehn Tage danach erfuhr ich im Kino von Verbrechen der Sowjetsoldaten. Mit der Lektüre wuchs meine Erschütterung. Unsere „Freunde“, wie es im Sprachgebrauch der SED hieß, sollen einer achtzigjährigen blinden Frau den Kopf mit einem Spaten gespalten, andere Frauen nackt an Leiterwagen genagelt haben? Lange konnte ich an dem Abend nicht einschlafen. Während ich mich unruhig im Bett wälzte, kam mir die Lösung: Der Berichterstatter war noch nie in dem Dorf gewesen, woher kannte er Alter und Gebrechen der Frau? Ich stellte mir den blutüberlaufenen, aufklaffenden Schädel vor, wo da eine Blindheit finden, woher das genaue Alter? Die Einheimischen hatten ja den Ort verlassen. Und versuche einmal, einen Nagel in den federnden Holm eines ostpreußischen Leiterwagens einzuschlagen! Für mich wurde klar, „da drüben“ wurde, wie bei uns, allzu dick aufgetragen oder gar gelogen.
Seitdem saß ich einmal in der Woche im dem gewaltigen Lesesaal der Bibliothek, bearbeitete die Presse, ließ mir endlose Meter Kopien ziehen und brachte nach fünf Monaten alles nach Hause. Nebenbei: Ich las dort alle bedeutenden westdeutschen Bücher über das Kriegsende in meiner Heimat. Die Sowjet-Genossen halfen mir, unbewusst, das DDR-Verdikt über derart Literatur zu umgehen. Auch die polnischen Genossen halfen mir, bewusst dieses Mal. In ihrem Teil Ostpreußens druckten sie 1989 das Ergebnis dieser Studien in einer ihrer Zeitschriften ab.2 In den Staaten des Warschauer Vertrages wurde diese Thematik damit erstmals in diesem Umfang behandelt.
Nach der Friedlichen Revolution in der DDR konnte ich mich mit meinem Problem intensiver befassen. Entstanden ist, neben drei Büchern, eine Vielzahl von Vorträgen und Aufsätzen, inhaltlich mehr oder weniger gesteuert durch den Zufall, so wie es die Anforderungen von Seminarleitern oder Herausgebern ergaben, oder auch durch plötzlich ins Blickfeld getretene Situationen, wie z. B. das hier aufgenommene Interview mit einstigen sowjetischen Stadtteilkommandanten in Königsberg.
Ich gebe zu, dass diese Art der Darstellung eine negative Seite hat: Einzelprobleme sind über das ganze Buch verstreut. So befinden sich z. B. Aussagen zum Verhältnis Rotarmist – deutscher Zivilist in mehreren Aufsätzen. Da setze ich mein Vertrauen in den Leser. Manche Texte wurden gegenüber dem Original gekürzt, ohne den Inhalt zu verändern, oder weil das gleiche Thema an anderer Stelle ausführlicher behandelt wird. Hier und da habe ich Neues eingefügt. Ich durfte ja an aktuellen Erkenntnissen nicht vorübergehen. Der Wortschatz wurde einige Male durch den Verlag im Kontakt mit mir heutigen Lesegewohnheiten angepasst. Bei den Angaben zu sowjetischen Quellen kann ich vielfach die Vornamen der Autoren nicht nennen, da meist nur die Initialen angeführt werden.
Trotz des großen Umfangs des ausgewerteten Materials können die Ergebnisse nicht befriedigen. Es fehlt die Darstellung weiterer Gebiete, u. a. besonders zu den Ursachen der angeführten Erscheinungen, zu den Motiven der führenden Organe bei ihren Leitungsentscheidungen, bis hin zu den konkreten Maßnahmen, die das Verhältnis zur Zivilbevölkerung regelten u. a. Das muss durch vertiefende Forschung ergänzt werden. Weitere Desiderate finden sich am Schluss der einzelnen Arbeiten.
Von Ostpreußen und von seinem unglückseligen Verschwinden soll in diesem Buch auf eigene Art gesprochen werden. Auch nach den über sechzig Jahren seit Kriegsende und den 88 Jahren seit meiner Geburt gilt für mich immer noch die Feststellung Ralph Giordanos: „Wie kann man diese Heimat verlassen, ohne dass einem das Herz bricht? – Oh ja, es ist furchtbar, seine Heimat zu verlieren.“3
1.1 Zwischen den Strömen
Ostpreußen liegt zwischen den Mündungen von Weichsel und Memel in die Ostsee. An deren Ufer schwingen sich zwei konkave Sandbögen nordwärts: die Frische und