Die Elektrifizierung versetzt die chemische Industrie in die Lage (zum Beispiel durch Elektrolyse oder celsiusgradgenaue Temperatureinstellung), chemische Stoffe aller Art in Masse zu produzieren. Das eröffnet unendlich viele Möglichkeiten, sie neu zu kombinieren und zu Produkten zu verarbeiten: neue Werkstoffe und Legierungen, Schwefelsäure, Farbstoffe. Glas, Papier, Zement, Gummi und Keramik werden Teil der chemischen Industrie. Auch Aluminium hängt von der elektrischen Industrie ab, ebenso das Herstellen von Chlor. Was elektrischer Strom in der Chemie möglich macht, wirkt auf die Elektrobranche zurück: Erst mit Hilfe der Elektrolyse lässt sich Kupfer in großen Mengen herstellen. Nie zuvor haben Wissenschaft und Produktion so eng zusammengearbeitet – zum ersten Mal geht es in einem Kondratieff um die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse, besonders um das Wissen über den Aufbau der Materie.50
Durch den elektrischen Strom beginnt erst jetzt so richtig das Zeitalter des Stahls, auch wenn schon vorher bessere Herstellungsverfahren die Grundkosten des Rohstahls senken (Bessemer-Verfahren 1856, Siemens-Martin-Verfahren 1864, Thomas-Verfahren 1879). Im selben Jahr stellt Siemens den ersten elektrischen Hochofen vor. Am Ende des Kondratieffs erzeugen sie Temperaturen, die für konventionelle Brennstoffe unerreichbar sind. Der Preis etwa für Stahlschienen sinkt in den USA von 107 Dollar pro Tonne im Jahr 1870 auf 18 Dollar 1898.51 Mit den höheren Temperaturen steigt auch die Qualität. Stahl wird auf unendlich viele Arten neu einsetzbar. Das löst eine Welle von Anwendungen im Gebäude- und Schiffsbau und erneut bei der Eisenbahn aus. Die Eisenbahn ist aber nicht mehr Wachstumsmotor, sondern hat im Staffellauf der Wachstumsmärkte den Stab an den elektrischen Strom abgegeben. Weil der den Wohlstand hebt, gibt es mehr zu transportieren. In dem Jahrzehnt bis 1905 kommen in Deutschland noch einmal 10420 Schienenkilometer dazu, danach bricht dieser Sektor mit nur noch 5430 zusätzlichen Kilometern schon vor dem Ersten Weltkrieg am deutlichsten ein und zeigt, dass die Wirtschaft auch ohne Krieg in den 1920er Jahren abgerutscht wäre.
Der dritte Kondratieff verändert auch den Schiffsbau völlig: Wird 1870 erst jedes zehnte aus Stahl gefertigt, sind es nur 20 Jahre später neun von zehn Schiffen. Sie kommen mit deutlich dünneren Platten aus. Stahlschiffe sparen so mehr Kosten, als es die fallenden Preise pro Tonne Stahl ausdrücken – das gilt für alle Bereiche, wo Stahl das bislang verwendete Eisen ersetzt (s. Grafik). An Stahlpfeilern hängen neue Brückenkonstruktionen, große Bahnhofshallen werden aus Stahlträgern errichtet. Bisher waren hohe Gebäude auf dicke, tragende Mauern aus Ziegelsteinen angewiesen, die nur wenige Fenster erlauben. Mit dem Stahlbau beginnt jetzt im völlig übervölkerten New York und Chicago die Ära der Wolkenkratzer. Auch dabei zieht sich wieder das technologische Netz gegenseitig nach oben: Elektrischer Strom ermöglicht einen sicheren Lift, das Telefon die Kommunikation über 20 Stockwerke hinweg. Andererseits verbessert der Stahl auch Anwendungen der Elektrotechnik, etwa für größere Generatoren. Mit der jetzt möglichen Massenproduktion in der Chemieindustrie werden neue Legierungen möglich, die den Stahl immer härter machen, was wiederum neue Werkzeuge generiert – zum Beispiel die Bohrköpfe, die den Panamakanal ausgraben.
Kupfer wird durch Elektrolyse gewonnen, ermöglicht andererseits aber erst die Massen-Elektrifizierung. Aus elektrischen Hochöfen fließt besserer Stahl, was den Maschinenbau beflügelt, der mit härterem Stahl Metalle exakter verarbeiten kann. Rostfreier Stahl regt die Rüstungsindustrie an. Blechdosen bestehen ab jetzt nicht mehr aus Zinn-Weißblech, sondern zu 98 Prozent aus Stahl – das verändert die Haushalte und das Leben der Soldaten im Ersten Weltkrieg. Fahrräder aus Stahlrohren werden in den 1890er Jahren erschwinglich. Und auch Gebrauchsgüter wie Essbesteck ersteht der kleine Mann für weniger Geld.
Nicht Makroökonomie, sondern der neue Kondratieff treibt den Wohlstand
Der Markt ist kein völlig zufälliges Geschehen. Die Elektroindustrie entwickelt sich, wie sich alle Basisinnovationen entwickeln: Ihre Beschäftigung, ihr Umsatz und ihr Anteil an der Gesamtwirtschaft explodieren. In nur 17 Jahren legt die Zahl der Mitarbeiter bei Siemens von 4000 im Jahr 1895 auf 57.000 im Jahr 1912 zu, bei der AEG von 550 auf 22.650. Die Hälfte aller in der deutschen Elektrobranche Beschäftigten arbeitet in »Elektropolis«, in Berlin. Auch innerhalb der deutschen Industrie bekommt die Elektrobranche größeres Gewicht: 1895 arbeiten 24.000 Menschen in der Elektroindustrie, das ist nur jeder 250. Industriearbeiter. 1925 sind es 449.000 – das ist jetzt jeder 25. Der weltweite Umsatz von Siemens steigt von 800.000 Britischen Pfund 1893 auf 23,6 Millionen Pfund, AEG ist mit einem Umsatz von 22,7 Millionen Pfund fast gleichauf. Jeder von ihnen produziert allein mehr als der wichtigste US-Konkurrent General Electric, der 17,8 Millionen Pfund auf die Waage bringt.
Die Elektrifizierung spiegelt sich auch in der Weltkupferproduktion wider: Sie steigt zwischen 1875 und 1900 von 130.000 auf 525.000 Tonnen. Welches wirtschaftliche Gewicht der elektrisch hergestellte Stahl bekommen hat, verdeutlicht sein Verhältnis zum Branchenumsatz des ersten Kondratieffs: Während die US-Wirtschaft 1901 Textilien für eine Million Dollar produziert, produziert sie im selben Jahr Stahl im Wert von einer Milliarde Dollar.52 Zwischen 1880 und 1913 steigt der US-amerikanische Stahlausstoß von einer auf 31 Millionen Tonnen, in Deutschland von 0,7 auf 18,9 Millionen Tonnen, in Großbritannien dagegen nur von 1,3 auf 7,7 Millionen Tonnen. 1903 ist der Stahlhersteller Krupp das größte Privatunternehmen auf dem europäischen Kontinent.
Dass kurz nach der Jahrhundertwende eine Elektrokrise ausbricht, ist kein Argument gegen die These, dass in diesen Jahren ein Kondratieffaufschwung stattfindet. Macht die Basisinnovation bei ihrer Bergtour eine Pause, dann stottert die Konjunktur, aber eben nur kurz. Das gibt es auch beim Eisenbahnaufschwung in den 1840ern und 1857 oder im Computeraufschwung um 1992: weil Investitionen nicht immer im selben Tempo von der Gesellschaft wirtschaftlich aufgenommen werden können, mit welchem sie errichtet werden. Deutlich nachzuvollziehen ist der dritte Kondratieff an der Zahl der Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen ins Ausland flüchten: In den zehn Jahren während des zweiten Kondratieffabschwungs zwischen 1881 und 1890 wandern 1.342.000 Deutsche in die USA aus, die zu dieser Zeit in Deutschland nicht ausreichend produktiv beschäftigt werden können. Das ist nicht nur ein Verlust an Menschen, sondern auch an Kapital. Denn sie nehmen im Durchschnitt vier bis sechs Jahreseinkommen eines Arbeiters mit. Trotz Bevölkerungsexplosion versiegt der Auswandererstrom, als Deutschland im dritten Kondratieff prosperiert: Zwischen 1901 und 1910 wandern insgesamt nur noch 280.000 Deutsche aus.
Zu welchem Zeitpunkt man genau anfangen sollte, die Geschichte des dritten Kondratieffs zu erzählen, lässt sich nur willkürlich bestimmen. Ein Strukturzyklus berührt zwar alle Ebenen des Denkens und der Gesellschaft, aber er berührt sie unterschiedlich schnell. Seine grundlegenden Erfindungen brauchen Zeit. Lange, bevor sie die Wirtschaft antreiben, müssen sie zahlreiche Hindernisse überwinden, technische Probleme lösen, soziale Voraussetzungen und Infrastruktur schaffen, misstrauische Zeitgenossen vom Nutzen überzeugen. Längst beansprucht das neue technologische System große Entwicklungsressourcen, verändert Bildungslandschaft und Organisationsmuster, bis es stark genug ist, die Wirtschaft auf ein neues Wohlstandsniveau zu tragen. Seine Strukturen überlappen sich mit denen des Vorgängers und des Nachfolgers, verlaufen parallel. Ein neues technologisches System entwickelt sich zuerst nur als Nische, Nutzer oder Zulieferer des aktuellen Strukturzyklus und mausert sich zu einem eigenen Kondratieff, bis es in seinem wirtschaftlichen Gewicht selbst