Die Kurse stürzen ab. Und zwar schließlich quer Beet durch alle Branchen. 61 Banken, 116 Industrieunternehmen und vier Eisenbahnunternehmen machen pleite. Hunderttausende verlieren ihre Ersparnisse, ganze Familien verarmen auf Generationen hinaus. Statt auf Reichtum sitzen manche auf Schulden, mit denen sie Aktien gekauft haben. Zeitungen drucken Tränendrüsengeschichten etwa vom gutgläubigen Agrarier, der sein Landgut verkauft, um in der Stadt als Rentner zu leben. Von dem Geld sowie mit einem Kredit kauft er Aktien einer erst zehn Monate alten »Centralbank für Bauten«, die zwar schon zehn Monate nach Gründung eine Superdividende von 43 Prozent auf den Nennwert der Aktie ausschüttet, der etwa ein Viertel des Kurses beträgt. Dieser beginnt jedoch plötzlich stark zu sinken, und nach nur einem halben Jahr ist das Vermögen aufgebraucht, der Restwert der Aktien reicht nicht, die Schulden zu begleichen.39 Die Selbstmordrate steigt 1873 so sprunghaft an wie später auch 1929.
An den Börsen sinkt der Aktienkurs ins Bodenlose und noch 1876 liegen die Kurse im Schnitt um 50 Prozent unter den Notierungen des Booms bis zum Februar 1873. Der Bankier Gerson Bleichröder, der die Krise glimpflich überstanden hat, schätzt damals, dass die Deutschen ein Drittel ihres Nationalvermögens verloren haben.
Auch die Immobilien-Blase bricht zusammen. Baugesellschaften machen reihenweise Pleite, weil ihre Grundstücke nur noch halb so viel wert sind wie zu der Zeit, als sie den Kredit bekommen haben. In Berlin stehen plötzlich Zehntausende Wohnungen leer (das ist zuvor undenkbar, angesichts des Wohnungsmangels), unzählige Hausbesitzer können ihre Bankkredite nicht mehr zurückzahlen. Was kommt, ist die schwerste und längste Wirtschaftskrise des 19. Jahrhunderts.
Es ist wie nach jedem Kondratieffhöhepunkt: Niemand will mehr kaufen, niemand mehr investieren. Die Firmen bleiben auf ihren Waren sitzen (reden vom »Käuferstreik« oder machen den Euro dafür verantwortlich), sie müssen den Preis zurücknehmen und sich von Gewinnen verabschieden wie die Aktionäre von Dividenden. Weil das auch nichts hilft, stagniert die Produktion im Kondratieffabschwung, immer mehr Menschen sind arbeitslos, es kommt zum Verteilungskampf, mit dem Ergebnis, dass die Löhne sinken.
Während der zweite Kondratieff in Europa 1873 den Rückwärtsgang einlegt, überschreitet er in den USA schon 1866 den Höhepunkt40 – im Jahr nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Unterschiedliche Wendezeiten, schreibt der Ökonom Nikolai Kondratieff, würden nicht seine Theorie in Frage stellen, sondern zeigten, dass die langen Strukturzyklen in verschiedenen Ländern zwar nicht identisch, aber doch ziemlich parallel verlaufen.41 Daher kann es auch keine mathematisch exakten Wendepunkte der langen Zyklen geben – nur ein Zeitfenster, in dem die Wirtschaft umkippt.
Die Krise nach 1873 ist vor allem eine Strukturkrise: Zusätzliche Eisenbahnkilometer machen nicht mehr wesentlich produktiver, es dauert immer länger, bis sich Investitionen amortisiert haben. Die Zahl der zusätzlich verlegten Schienenkilometer nimmt ab. Deutschland baut in dem Jahrzehnt bis 1885 nur 9690 und bis 1895 noch zusätzliche 8910 Schienenkilometer.42 Das gilt für jedes Land wie Großbritannien, die USA oder Deutschland: Addiert man die bestehenden Bahnkilometer zusammen, erhält man jeweils eine lang gezogene S-Kurve, die sich in den 1830ern/1840ern langsam entwickelt, dann in den 1850ern/1860ern stark ansteigt und sich in den 1870ern/1880ern wieder abschwächt. Diese Verlaufsform erklärt, warum lange Zyklen 40 bis 60 Jahre dauern, und sie erklärt den wirtschaftlichen Schwung dieser Jahrzehnte, der zuerst stotternd, dann mit Wucht die Konjunktur treibt und schließlich unvermittelt in langen Stagnationsjahren stehen bleibt: Der fallende Grenznutzen, also der sinkende Nutzen einer weiteren Investition, läutet den Kondratieffabschwung ein. Das heißt, ein zusätzlicher, neu gebauter Eisenbahnkilometer ist nicht mehr so rentabel wie bisher. Als man die großen Städte verbindet, bedeutet das einen großen Nutzen. Als man später von Kleinstädten noch Stichbahnen in die umliegenden Dörfer baut, nutzt das gerade den paar Bewohnern, deren Kapital in der Regel so gering ist, dass die Strecke schon sehr lange braucht, bis sie die Investitionskosten wieder eingefahren hat. Spekulative, aber unrentable Linien brechen zusammen.
2. Kondratieffabschwung Die große Depression
Historiker bezweifeln, ob es denn überhaupt eine Krise gegeben hat: Zwischen 1870 und 1890 verfünffachen die fünf größten Industrieländer ihre Eisenproduktion und produzieren am Ende 20-mal mehr Stahl. Doch subjektiv erleben die Menschen nach 1873 in ganz Europa eine Depression, fühlen sich ärmer als zuvor. Rückwärtsgewandt kultiviert die Kunst einen Baustil wie den Historismus, der in existenziell unsicheren Zeiten das Gefühl einer starken Trutzburg erzeugen will. Die Bayern haben das Gefühl, vor ihrem Beitritt zum Deutschen Reich 1871 (im langen Aufschwung) sei alles viel besser gewesen, was zwar stimmt, aber nichts mit den besserwisserisch auftretenden, schnodderigen preußischen Spitzenbeamten aus Berlin oder Essen zu tun hat. Ist die absolute Krisenstimmung mit apokalyptischen Visionen nur eine Massenpsychose? Nein: Die Preise, die Unternehmer pro Tonne Eisen erzielen, sinken, damit die Gewinne und im Gefolge auch die Löhne. Das Volkseinkommen geht in England von 1113 Millionen britischer Pfund 1875 auf 1076 Millionen Pfund 1880 zurück und stagniert bis etwa 1890. Die Nettoinvestitionen sinken inflationsbereinigt von 81 Millionen Pfund 1875 während der gesamten nächsten Jahre und erreichen 1890 einen Tiefpunkt mit 55 Millionen Pfund.43
Kein Wunder: Sobald ein halbwegs geschlossenes Eisenbahnnetz steht, konkurrieren Waren über eine Entfernung von Tausenden von Kilometern miteinander. Vor 1870 sind die wenigsten Bauern und Landwirte dem Wettbewerb ausgesetzt. Wer etwas mit großem Gewicht, aber relativ geringem Wert erzeugt – ein paar Tonnen Weizen –, dessen regionales Geschäft ist sicher, weil einem der Preis im Nachbarland egal sein kann, solange der Transport dorthin weit teurer ist als der Preisunterschied. Ab etwa 1870 spannt sich das Eisenbahnnetz weltweit um die Märkte: Der mittlere Westen und die Prärien der USA sind angeschlossen, bald auch die Kornkammer Ukraine, Argentinien, Australien und Kanada. Dampfschiffe können nun nennenswerte Lademengen mitnehmen. 1869 wird der Suez-Kanal eröffnet, was den Seeweg zwischen Europa und Indien/Asien dramatisch verkürzt.
Je mehr Anbieter durch die neuen Transportmittel beim Kunden mitbieten, umso intensiver wird der Wettbewerb, umso stärker werden die Gewinnspannen gegenseitig unterboten. Wieder (wie 1929 oder wie heute) suchen Unternehmen ihr Heil in der Überproduktion, um durch noch größeren Mengenausstoß die Kosten pro Stück weiter zu drücken und zu hoffen, dass sie dann gekauft werden. Es ist eine Krise der Ertragskraft. Während auch alle anderen Länder zu kämpfen haben, wächst England noch langsamer als der Rest. Sein Anteil an der Weltindustrieproduktion sinkt von 22,6 Prozent im Jahr 1880 auf 18,5 Prozent zur Jahrhundertwende.
Erst in der zweiten Hälfte der 1890er wird England wieder wertmäßig so viel exportieren wie in den 1870ern. Selbst die USA erleben trotz Wirtschaftswachstums zum ersten Mal ernsthaft Arbeitslosigkeit und eine Krise, welche die ganze Gesellschaft erfasst. Zeitgenossen nennen die 1880er die »große Depression«.
Auch in Deutschland erscheinen die Abschwungjahre 1873 bis 1896 vielen Zeitgenossen als eine erschreckende Abweichung von den historischen Erfahrungen. Die Preise sinken im Durchschnitt um 30 Prozent bei allen Waren. Seit Menschengedenken hat es eine solch drastische Deflation nicht gegeben. Auch der Zinssatz fällt so stark, dass die Wirtschaftstheoretiker an die Möglichkeit zu glauben beginnen, das im Überfluss vorhandene Kapital könne sich zu einem frei verfügbaren und kostenlosen Gut entwickeln. Die Profite schrumpfen zusammen. Für die damals Lebenden scheint sich die Depression unendlich lange fortzusetzen. Sie haben den Eindruck, das Wirtschaftssystem sei erschöpft.44
Das hat nichts mit Psychologie zu tun. Politiker irren, wenn sie meinen, sie könnten heute mit Psycho-Tricks und positivem Denken einen Aufschwung herbeireden. Ebenso halbwahr meint der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard in den 1950er Jahren,