Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Erik Händeler
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная деловая литература
Год издания: 0
isbn: 9783865064356
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noch vor dem Gründerkrach ein Bündnis mit dem Bürgertum angestrebt – aber angesichts der Situation in den Krisenjahren nach 1873 scheitert es an sozialen Fragen wie Lohn und Arbeitsverhältnissen. Im langen Abschwung müssen sich die Arbeiter nach langen Streiks und Arbeitskämpfen geschlagen geben und für weniger Lohn arbeiten. Vom Bürgertum im Stich gelassen, vom Staat ausgegrenzt, reagieren die Sozialdemokraten auf die neuen strukturellen Verhältnisse im Mai 1875 auf ihrem Parteitag in Gotha mit einem marxistisch geprägten Programm, das der politischen Ordnung offen den Kampf ansagt.

      Um sie in Schach zu halten, reichen Nationalismus und Kolonialgerassel allein nicht aus (siehe oben). Bismarck schiebt ein Attentat auf Kaiser Wilhelm I. den Sozialisten in die Schuhe und rechtfertigt damit am 21. Oktober 1878 das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«. Versammlungen, Parteiarbeit und Druckschriften werden erschwert oder gleich ganz verboten. Die soziale Frage – im Kondratieffabschwung besonders brennend – beantwortet der Staat brutal und hart im Sinne der herrschenden Zirkel, um dem »Staatssozialismus einer revolutionären, nicht mehr steuerbaren Arbeiterbewegung« zuvorzukommen. Erst als sich mit dem Aufschwung des nächsten Strukturzyklus die Marktmacht der Arbeiter wieder verbessert, wird die 1891 in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) umbenannte Partei stärkste innenpolitische Kraft.

      Ebenso wenig zimperlich geht der Staat mit der katholischen Kirche um. Der Papst wendet sich schon 1864 mit der Enzyklika »Syllabus errorum« gegen den Liberalismus – das ist in den Hochkonjunkturjahren des zweiten Kondratieffs so ziemlich das Gegenteil des Zeitgeistes. Nachdem das neue Reich die Kirche auf vielen Gebieten als Konkurrenz empfindet (Eheschließung, Bildung, Zielvorstellungen des Lebens), verstößt der preußische Staat selber gegen liberale Grundsätze wie etwa den Wettbewerb der Meinungen und besten Ideen: Der »Kanzelparagraph« verbietet Pfarrern, staatliche Angelegenheiten anzusprechen. Alle Klöster in Preußen sowie alle Niederlassungen der Jesuiten in Deutschland werden verboten, nicht-deutsche Geistliche ausgewiesen, 1876 alle preußischen Bischöfe verhaftet oder ausgewiesen. Für Bismarck wird der Kulturkampf eine peinliche Niederlage: Das Kirchenvolk rückt umso enger zusammen, je mehr es vom Staat gegängelt oder der Freiheitsrechte beraubt wird, die katholische Zentrumspartei verdoppelt bei den Reichstagswahlen ihre Stimmen. In den 1880er Jahren lenkt Bismarck ein. Er hat genug anderen Ärger, zum Beispiel finanzielle Verteilungskämpfe mit dem Reichstag auszufechten.

       Verteilungskampf: Bismarcks Staatsstreichpläne

      Das hat damit zu tun, dass das junge Reich im Aufbau immer mehr Zuständigkeiten bekommt und Militär oder Botschaften stetig ausbaut, die Steuereinnahmen aber nicht so üppig eingehen. Wenn diese Zeit dagegen ein Kondratieffaufschwung wäre, der Reichskanzler hätte weniger Probleme, seine Rechnungen bezahlt zu bekommen. Während nach der Reichsgründung die Mitgliedsländer sozusagen einen Vereinsbeitrag zahlen, finanziert sich der Gesamtstaat ab 1879 aus Zöllen und Tabaksteuer. Und was über 130 Millionen Reichsmark hinausgeht, bekommen die Länder, die sich auch noch ihre bisherigen »Matrikularbeiträge« sparen. Bismarck scheitert mit dem Versuch, ein Tabakmonopol zu errichten und weitere indirekte Steuern zu erheben – das Reich muss Schulden machen.

      Deswegen denkt Bismarck ab 1880 über einen Staatsstreich nach, weil man, so meint er, mit einem Reichstag nicht regieren könne, der aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervorgegangen ist. Entweder die Einzelstaaten rufen ihre Vertreter aus dem Bundesrat zurück, einigen sich auf eine gleich lautende Landesgesetzgebung und überlassen der Reichsverwaltung Außenpolitik, Militär und Zölle. Oder die Fürsten kündigen das Reich von 1871 und gründen ein neues Deutsches Reich mit einem Reichstag, der nach dem preußischen Dreiklassenwahlrecht gewählt wird: Also nicht jede Stallmagd oder jeder Arbeiter hat mit seinem Wahlzettel ein ebenso großes Gewicht wie Thyssen oder Krupp, sondern es gibt drei Vermögensklassen, die gleichviel zu bestimmen haben: Die oberen paar Tausend so viel wie Millionen einfache Arbeiter. Bismarck scheitert mit seinen Plänen an der Außenpolitik, die ab 1885 einen Staatsstreich nicht zulässt.

      Nichts hat also geholfen, die »große Depression« zu überwinden: weder die Schutzzölle, mit denen sich Deutschland vom Weltmarkt abschottet, noch Kolonien, die Sozialversicherung oder die Verfolgung von Sozialdemokraten und Katholiken. Selbst der angedachte Staatsstreich bringt keinen finanziellen Spielraum. Die Depression dauert bis in die 1890er. Als sich die Wirtschaft wieder erholt, stabilisiert sie sich nicht wegen der staatlichen Interventionen, sondern »weil die Unternehmer wieder Mut hatten, zu gründen und zu investieren«, so die vorherrschende Meinung.48 Doch niemand wird aus heiterem Himmel unternehmerisch tätig oder weil er eine Positiv-denken-Pille geschluckt hat. Die Kondratiefftheorie erklärt, warum es sich wieder lohnt, zu investieren: Neue Techniken und Kompetenzen machen die Fabriken wieder produktiver.

      3. Kondratieffaufschwung Die unsichtbare Energie

      Dampfmaschinen können sich nur kapitalkräftige Unternehmer leisten – für den normalen Handwerker sind sie ein unerreichbares Ziel. Und sie sind aufwändig: Eine Dampfmaschine benötigt Arbeiter, die Kohle heranschaufeln. Sie verbreitet Hitze, belastet das Gehör und ist unflexibel: Denn sie lässt sich nicht einfach an- und ausknipsen. Sie rotiert ununterbrochen, unabhängig davon, ob und wie viele Maschinen über Riemen an die Transmissionsstange gekoppelt sind. Die teure Energie verpufft dann ungenutzt. Und wenn die Dampfmaschine kaputt ist, steht die ganze Fabrik still.

       Grundlegende Erfindungen stellen die ganze Gesellschaft auf den Kopf

      Diese Wachstumsgrenze überwindet der dritte Kondratieff mit mobiler Energie. Elektrischer Strom – das ist Kraft für Maschinen, Licht für Städte, Kommunikation, ein Katalysator für chemische Prozesse, Wärme für den Haushalt oder Hitze für den Hochofen. Elektrischer Strom revolutioniert die Mechanik. Er verändert die Arbeitsorganisation, die Betriebsgröße und den Bau von Maschinen. Tragbare Bohrer oder fahrbare Presslufthämmer (zum Kohlehauen unter Tage) lassen sich überall nutzen, wo ein Kabel hinführt oder eine ausreichend große Batterie mitgebracht wird. Stromkabel lassen sich überallhin verlegen und machen Firmen ortsunabhängig von Kohlevorkommen. Fabriken werden mit elektrischem Licht heller, der Unterschied zwischen Tag und Nacht verschwimmt. Die Kapazität einer elektrifizierten Produktionsanlage ist größer als die der Dampfgetriebenen, die Qualität steigt. Energie wird dosier- und wandelbar. Hitzeenergie lässt sich über den elektrischen Strom in kinetische Energie umsetzen (zum Beispiel: Strom aus einem Kohlekraftwerk zieht einen Fahrstuhl nach oben) und umgekehrt (Strom aus einem Wasserkraftwerk heizt einen elektrischen Stahl-Hochofen). Wo sich Wasserkraft zum Beispiel wie bei den Niagarafällen in den USA nutzen lässt, entsteht elektrische Energie praktisch kostenlos.

      Das alles braucht wie bei jedem neuen Strukturzyklus wieder gesellschaftliche Debatten über neue Gesetze und technisch abgestimmte Normen. Denn die Gesellschaft ist sich doch noch gar nicht darüber einig, wohin die Reise gehen wird: Als Edward Belamy 1888 sein Buch »Utopia: Looking Backward« ein paar Millionen Mal verkauft, prognostiziert er, bis zum Jahr 2000 werde der elektrische Strom alle Lichtquellen und Herdplatten befeuern. Das gilt als mutige Aussage, obwohl es in Wirklichkeit viel schneller so kommt. Die meisten Zukunftspropheten machen zu ihrer Zeit den Fehler, nur die gegenwärtige Entwicklung hochzurechnen, anstatt sich vorzustellen, wie stark sie sich beschleunigt.

      Verständlich, wenn man sich überlegt, vor welchen ungeheuerlichen Investitionen eine Gesellschaft zu Beginn des neuen Strukturzyklus steht: Kohlekraftwerke erzeugen elektrischen Strom außerhalb der Fabrikhalle oder sogar draußen vor der Stadt. Kabel leiten elektrische Energie direkt an den Verbrauchsort. Dort verwandeln Elektromotoren den Strom sauber und geräuschärmer als die bisherigen Dampfungetüme in mechanische Bewegungsenergie, stanzen Bleche, lassen Spindeln rotieren, bohren Schraubengewinde. Elektrische Maschinen werden zu einem neuen Wirtschaftszweig. Glühlampen erhellen die Innenstädte, Theater und bald auch Wohnungen ungefährlicher als Gas- und Petroleumlampen. Die gewaltig gesteigerte Produktivität vernichtet keine Arbeitsplätze (wie Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Gruppen in den 1970ern/​80ern gegen Computer und Roboter eingewandt haben), sondern sie schafft einen schier unendlichen neuen Arbeitsbedarf: Kupfer muss in Bergwerken gefördert, Kabel, Masten und Dynamos müssen gefertigt und verlegt werden, um Strom und um Nachrichten zu übertragen. Technische Hochschulen bilden Ingenieure aus.

      Eine