Der Chronist I
Die Geschichte ist eine Geschichte von Ereignissen, die als Epochenbrüche wirkten, als einschneidende Zäsuren, nach denen – wie es dann in den Chroniken oft hieß – »nichts mehr sein würde wie zuvor.« Und immer wieder ereignete sich dabei das Phänomen, dass die Zeitgenossen, die Zeugen dieser Umstürze waren, sich post festum viel älter als ihre Jahre vorkamen. Die Geschehnisse beanspruchten in aller Regel nicht viel Zeit. Sie gingen in wenigen Jahren, manchmal an einem einzigen Tag über die Bühne. Die großen Entscheidungsschlachten, die Revolutionen und Tyrannenmorde, die Verträge und Inthronisationen: Manchmal genügten ein paar Stunden, um die Weltgeschichte in zwei Hälften zu zersprengen, in ein Vorher und Nachher. Und die Zeitgenossen, die am nächsten Morgen aus den Schützengräben krochen oder sich das Blut abwuschen, die vielleicht auch ahnungslos aufs Forum gingen oder die Zeitung aufschlugen, diese Zeitgenossen begriffen meist nur zögernd und mit innerem Widerstreben, dass sie über Nacht aus einer Ära in die nächste gerutscht, dass sie in einen neuen Äon katapultiert waren, dass im großen schwarzen Folianten der Geschichte wieder einmal ein neues Kapitel aufgeschlagen worden war. So ging es den Veteranen der Perser- und der Punischen Kriege, den Mördern Caesars und Ludwigs XVI., den Heimkehrern der beiden Weltkriege. Hier war etwas geschehen, das nicht mehr ungeschehen zu machen war, vor dem es kein Zurück gab. Ob man hier Zeuge oder Nachgeborener war, entschied darüber, welcher Generation man künftig angehörte. Eltern und ihre Kinder können sich nach einem solchen Umbruch oft über die alltäglichsten und banalsten Dinge kaum noch verständigen. Und selbst Geschwister, die nur für diese wenigen, aber entscheidenden Jahre voneinander getrennt sind, werden sich fremder, als es in ruhigen Zeitaltern die Enkel für die Ururahnen waren.
Die Nachgeborenen zeichnen sich oft durch eine zur Schau getragene Unbekümmertheit aus. Wenn schon in stabilen Phasen der Historie gilt, dass mit jeder neuen Generation die Weltgeschichte von vorne beginnt, so ist den Kindern der »Stunde Null« in ganz besonderem Maße das Bewusstsein zu eigen, dass sich das Zurückschauen nicht lohne, sondern dass nun und mit ihnen erst der eigentliche Anfang zu machen sei. Während die Alten vor der Zeit gealtert – Kriegs- und Ehejahre zählen bekanntlich doppelt – und von der Langeweile jedes Veteranentums umgeben sind, zelebrieren die Jungen ihre Jugend, ihre Unbekümmertheit, ihre ostentative Geschichtsvergessenheit. Die Charleston-Wut der »Goldenen Zwanziger« verhielt sich dabei zum Grauen der Materialschlachten wie der Rock ’n’ Roll der Fünfziger zu Bombenkrieg und Holocaust. Man wollte damit ein für alle Mal nichts mehr zu tun haben. Stattdessen stürzte man sich mit der charakteristischen Lautheit von Leuten, die nicht hören wollen, in die Gegenwart, die »Jetztzeit«, den neuen Aufbruch, von dem aus man die Zukunft für sich pachtete und reklamierte. Nach den Perserkriegen blühten die Künste in ungeahntem Maße auf. Es entstand das perikleische Athen, das für alle Zeiten das uneinholbare Muster zeitloser Klassizität geben sollte. Und auf Sizilien wuchsen die Triumpharchitekturen von Agrigent und Selinunt aus dem roten Boden. Aber in jedem Triumph ist etwas Hohles. Er verführt zur Selbstüberschätzung und zu jener Leichtfertigkeit und Überheblichkeit, für die der Name Alkibiades wie kaum ein zweiter steht. Die nächste Generation zahlt wiederum die Zeche. Das Gefühl der Unbesiegbarkeit, zu dem der eine epochale Sieg verleitete, rächt sich und trägt die Niederlage im kommenden Konflikt schon in sich. Denn es gibt, darauf hat schon der ältere Ash immer wieder hingewiesen, in Wahrheit keine »Stunde Null«. Geschichte ist ein strömendes Kontinuum. Es geht immer weiter. Das Pendel schlägt unerbittlich vor und zurück. Doch davon ahnen die noch nichts, die gerade dem letzten Pendelschlag entronnen sind, die in dem Bewusstsein groß werden, noch einmal davongekommen zu sein, vom Weltgeist begünstigt, der ihnen bei der Stunde ihrer Geburt eine besondere und ungerechtfertigte Gnade zuteil werden ließ. Nach Actium ruft man ein Imperium des Friedens aus, und Octavian läutert sich zu Augustus. Auf dem Wiener Kongress erlebte der Walzer seinen Durchbruch als führender Gesellschaftstanz des ganzen 19. Jahrhunderts. Man glaubte, sich das leisten zu können. Die Schlachten waren geschlagen. Selbst Waterloo wirkte nur noch als lästige und ferne Unterbrechung eines Konferenzwesens, das auf den Kabinettstischen wieder einmal den Kontinent zurechtschnitt. Nebenher wurde getanzt, gekuppelt und verheiratet. Ein Zeitalter der Restauration schien angebrochen, der Sicherheit, des Biedermeier und des Schubertliedes. Aber all diese Feiernden und Tanzenden, die sich auf Überstandenem ausruhen wollen, haben sich getäuscht. Der Weltgeist atmet ein und aus, er legt zuweilen eine Pause ein. Aber er schläft niemals. Und während die Ewigheutigen ihren Zerstreuungen nachgehen, bereitet sich in den Kavernen schon die nächste Revolution vor, der nächste Aufstand oder der nächste große Krieg.
*
Am Abend saßen wir mit Reynolds und Rogers in einer der kleinen Bars, die am Kreuzungspunkt des Verbindungsgangs der Wohnblasen mit dem Torus in die Arkaden eingelassen waren. Wir nannten diese T-förmige Öffnung »Die Plaza«. Wie in einer der Warteröhren eines Raumhafens verloren sich die lang gestreckten Kuppeln nach rechts und links. Genau gegenüber unserem Sitzplatz, einige Hundert Meter entfernt, huschten die gelben und blauen Leuchtstreifen des Beförderungssystems dahin. Hoch über unseren Köpfen schimmerte die Wölbung der Elastalglaskonstruktion.
»Schade, dass Jill und Taylor nicht hier sind«, sagte Jennifer.
Tatsächlich hatten die beiden nach der Schlacht von Sina ihren Abschied genommen. Einmal hatten wir sie noch besucht, als sie sich in einem amishen Kibbuz im Hinterland von Pensacola niedergelassen und sich dem Wiederaufbau dieses besonders schwer verwüsteten Landstriches gewidmet hatten. Später verloren sich ihre Spuren; der Kontakt war abgerissen. Wir wussten nur, dass die Amish, zu denen sie konvertiert waren, ein weitverzweigtes Netz von Kolonien unterhielten und sich bei der Inbesitznahme der neuen Welten als Pioniere hervortaten.
»Habt ihr je noch etwas von ihnen gehört?«, fragte ich.
Reynolds schüttelte den Kopf.
»Die Amish haben ihre eigenen Gesetze«, brummte Rogers. »Sie werden zwar auf dem Kongress vertreten sein, aber nach allem, was ich höre, ist der Beitritt zur Union bei ihnen stark umstritten.«
Diese Religionsgemeinschaft war in der ganzen Galaxie für ihren Rigorismus bekannt. Sie lehnte weltliche Vergnügungen aller Art ebenso ab wie die positive Wissenschaft, der sich die interstellare Exploration verschrieben hatte. Es hatte mich daher gewundert, dass ausgerechnet Jill und Taylor zu diesem Glauben konvertiert waren. Freilich hatten sie in den Monaten, die sie in den Katakomben von Sina City ausharren mussten, mehr durchgemacht als wir alle. Und sie hatten diese Zeit nur überleben können, weil sie aneinander festgehalten hatten. Als wir sie aus dem schwer umkämpften Sina City evakuierten, war Jill in Trance verfallen. Die Tloxi sprachen durch sie.
Hinterher hatten sie ihren Abschied eingereicht, hatten den amishen Glauben angenommen, hatten geheiratet und sich einem Kibbuz zuteilen lassen. Seither waren sie verschwunden.
»Die Amish«, fuhr General a. D. Rogers fort, »haben großen Wert auf ihre Neutralität und Unabhängigkeit gelegt. Sie verbaten sich jede Einmischung der Union, auch wenn sie dadurch auf ihre Schutzgarantien verzichten mussten. Sie beuten quer durch die Galaxis ihre Minen aus, was für sie mehr Religionsausübung als Broterwerb ist. Sie heiraten nur untereinander, versuchen, ohne jegliche Technik auszukommen, und stehen im Ruf, entbehrungsreiche Pioniere bei der Erschließung neuer Welten zu sein. Die Sineser haben sie in der Regel in Ruhe gelassen, hier und dort auch ihre Geschäfte mit ihnen gemacht.«
Ich zwinkerte der jungen blonden Hostess zu, die den Thekendienst der kleinen Bar versah, und bestellte mir einen weiteren Whiskey. Ihr Namensschild über der weißen Brusttasche des Hemdes, das einen schmalen, mädchenhaften Busen nachzeichnete, wies sie als »Layra« aus. Reynolds und Rogers folgten meinem Beispiel, während Jennifer sich eine neue Himbeer-Avocado-Milch mixen ließ. Als wir anstießen, ließ Jennifer amüsierte Blicke zwischen mir und der Offiziersanwärterin hin und her gleiten.
»Es heißt«, sagte Direktor Reynolds, »dass sie auch keinen Handel treiben.«
Rogers nickte und schwenkte seinen Tumbler.
»Nur über Mittelsmänner. Für sie selbst stellt die Arbeit in den Minen eine Art Gottesdienst dar.«