Im zweiten Weltkrieg hat meine Urgroßmutter den Zichorienkaffee selbst hergestellt. Dazu sammelte sie die Wurzeln der Kaffeepflanze im Herbst. Sie wurden von ihr zerkleinert, getrocknet und dann geröstet; sie bewahrte sie das ganze Jahr über in Kaffeedosen auf. Damals kannte auf dem Dorf jeder die Pflanze, die als blau blühende Wegwarte an Straßen- und Wegrändern wächst und von Juli bis September blüht. Aber auch in der Volksmedizin hat meine Urgroßmutter die Wegwarte noch verwendet, die sie auch „Wegelagerer“, „Blaue Distel“ und eben „Kaffeewurz“ nannte. Den Tee als Abkochung der Wurzel nahm sie bei Gallenleiden. Aus den frischen Wegwarteblüten stellte sie ein gesundes Kräutergelee her. Dazu ein altes Rezept meiner Urgroßmutter:
Die blauen Blüten werden zerschnitten, zerstoßen und mit drei Teilen Zucker vermischt. Sobald sich der Zucker aufgelöst hat, wird alles durch ein Tuch filtriert und in Honiggläser abgefüllt. Man kann’s kaum glauben, doch es trifft zu: Der rotblättrige, knusprig frisch schmeckende Radicchio stammt von der blaublütigen Wegwarte ab.
Bevor nun das Korn eingefahren werden konnte, musste man eine ganze Woche lang sonnige Tage haben. Sowie der Roggen in „Kaschde“ stand, gingen die Binderinnen bei Tagesanbruch zum Nachharken. Das wurde stets im Tau vor Sonnenaufgang gemacht. Beim Einfahren des Roggens wurde gewartet, bis der Morgentau sich aufgelöst hatte. Dagegen wurde das letzte Fuder erst am späten Abend ins Scheunentor gefahren.
Meine Eltern waren recht arm, sodass sich meine Mutter als „Magd verdingte“, um ein kleines Zubrot für ihre Familie zu verdienen. Sie arbeitete am Nachmittag beim reichsten Bauern des Dorfes; das war „Nauhausersch Peter“. Kaum zu glauben, was sich dann dort ereignete: 1944 kam eine junge Polin als Kriegsdeportierte auf „Nauhausersch“ Bauernhof. Sie musste dort hart arbeiten, aber es gefiel ihr dort. „Perersch“ Bauer hatte ein Auge auf sie geworfen, und zwei Jahre nach Kriegsende wurden beide ein Paar. Es war eine sehr glückliche Ehe, aus der fünf Kinder entsprossen.
Die erste und die letzte Garbe
Kultische Erntefeste sind so alt wie der Ackerbau. In der Bibel ist es Kain, der Ackermann, der „Gott Opfer brachte von den Früchten des Feldes“. Als der Mensch vor drei – oder viertausend Jahren bei uns sesshaft wurde, war dies nur möglich durch Bearbeitung und Bepflanzung der Scholle.
Auch die heidnischen Erntefeste unserer Vorfahren, Kelten und Germanen, schlossen kultische Opfer an Früchten des Feldes für ihre Götter ein: Baldur, der Gott des Lichts, der Frühlingsgott, der Gott der Fruchtbarkeit, stand bei den Germanen in besonderem Ansehen.
Erntefeste wurden in der Zeit, als noch 80 Prozent unserer Bevölkerung auf dem Lande lebte, als jeder Erwachsene und jedes Kind bei der Ernte mit eingespannt wurden, und vor allem eine gute Ernte als gnädiges Geschenk des Himmels betrachtet hat und nicht von einer wissenschaftlich und technisch abgesicherten Landwirtschaft fast als selbstverständlich betrachtet wurde, in allem Überschwang gefeiert: zu Beginn der Ernte, während der Ernte und vor allem nach der Ernte.
Der Auszug aufs Feld geschah am ersten Erntetag meist nach einer Frühmesse, bei der die Erntegeräte gesegnet wurden. Vorm ersten Schlag schlugen die Knechte ein Kreuz über ihrer Sense, oder alle haben sich am Feldrand hingekniet, und die älteste Magd hat für alle das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis gebetet. Auf jeden Fall entließ der Bauer seine Leute mit einem Segensspruch. In manchen Gegenden marschierten die Schnitter und Schnitterinnen von einem Geiger oder Trommler begleitet aufs Feld.
Die erste Garbe steckte am Pferdegeschirr, die später zuerst gedroschen wurde. Zur Einfahrt wurden Wagen, Leute und Pferde, Peitschen und Hüte mit Bändern und Blumen geschmückt; es wurde gesungen, und oft war diese erste Ernte für die Armen des Dorfes oder der Stadt bestimmt.
Die ersten drei Früchte, Ähren, Beeren, Kartoffeln, Obst, hat man über die Schultern geworfen, hat sie in Kreuzform auf den Boden gelegt, oder hat ein Häuflein in bestimmten Baumstümpfen zurückgelassen: Ernte-Aberglaube! Gaben für die Kornmutter oder einen Waldgeist.
Die letzte Garbe spielte eine ebenso bedeutende Rolle wie die erste: unsere Vorväter glaubten, im Korn wohne ein Dämon, ein unberechenbarer Geist, der bald segens-, bald unheilvoll ins Leben der Menschen wirke. Die Schnitter störten ihn natürlich in seiner Ruhe auf, deshalb musste er von einem im Stück gemähten Feldes ins andere fliehen, bis ihm nur noch die letzte Garbe übrigblieb. In und mit ihr war der Korngeist dann endlich gefangen. In anderen Gegenden folgte man der Sitte, die letzten Ähren nicht zu schneiden, sondern stehenzulassen und so zusammenzubinden, dass sie wie ein Wesen mit Leib, Hals und Kopf aussahen.
Die Kornmutter oder Kornmuhme war eigentlich Frau Holle, Wotans Frau, die als altes Weib mit grauen Haaren, roten Augen und schwarzer Nase die Kinder schreckte, die im Kornfeld Blumen pflückten und dabei das Getreide zertraten. Oder sie stellte als Roggenmuhme die Erdmutter dar, die ihre kostbaren Garben schützt oder als Mittagsfrau darüber wacht, dass alle Schnitter ihre Mittagsruhe halten. So wurde ihr zu Ehren die letzte Garbe als Erntemutter zu einer Figur zusammengebunden, mit Kittel und Schürze bekleidet, möglichst recht dick, weil das Fruchtbarkeit bedeutete: Wunsch und Beschwörung zugleich.
Sankt Peter wurde in manchen Gegenden die letzte Garbe geweiht. Man ließ die Halme um eine Birke herum stehen, schmückte den Platz so, wie Petrus den Schnittern und Schnitterinnen später den Himmel schmücken soll, und umtanzte Korn und Baum wie den Maibaum.
Zum Winden des Erntekranzes nahmen die Mädchen alles, was Spätsommer und Frühherbst zu bieten hatte: Ähren und Feldblumen, Kräuter und Früchteketten und dazu bunte Papierstreifen, Gold- und Glanzpapier. Die Haferbraut, das Mädchen, das die letzte Garbe gebunden hatte, trug den Erntekranz feierlich vor dem Erntezug zum Gutshaus. Bei der Übergabe trug die Haferbraut ein Gedicht vor, Gruß, Dank und Segen für die Herrschaft und alle Arbeiter und Arbeiterinnen. Beim Erntetanz gab es bestimmte Regeln. Auf den Gütern begann der allgemeine Tanz nach dem Ehrentanz der Herrschaft, beim Dorffest tanzten Vorarbeiter und erste Schnitterinnen den ersten Ehrentanz, beim Hoferntefest tanzten Bauer und Bäuerin reihum und nacheinander mit den Schnittern und Schnitterinnen. Die große Mahlzeit beim Erntefest begann in den meisten Gegenden mit einem Gebet und einem Segensspruch für alle, die bei der Ernte geholfen hatten. Es gab auf jeden Fall besseres Essen als sonst. Oft wurde schon eine Kostprobe von dem aufgetischt, was gerade geerntet worden war. So stand ein ährengeschmückter Erntekorb auf dem Tisch, in dem die schönsten und größten Früchte aus dem Bauerngarten und vom Feld lagen. Zur Suppe und zum Fleisch gab es oft das erste Brot aus dem neuen Getreide, das mit besonderer Ehrfurcht gegessen wurde.
Gut gedengelt und gesenst
Im Hochsommer ganz früh am Morgen war mein Großvater schon am Sensendengeln. Sein Dengelplatz war unter dem großen Walnussbaum. Beim Schlagen der Sensenblätter – fast im Takt – wurden wir Kinder aus dem Schlag geweckt. Zuerst prüfte Großvater, ob das Sensenblatt noch scharf genug war. „Die Klinge muss so flach wie eine Rasierklinge sein“, sagte mein Großvater. Zuerst drehte er das Sensenblatt mit dem passenden Inbusschlüssel herunter und begann mit dem ersten Arbeitsschritt, dem Vordengeln. Er legte das Sensenblatt mit der Wölbung nach oben auf die Ambossauflage und begann am breiten Ende des Sensenblattes. Zum Dengeln nahm er einen schweren Schlosserhammer, der am stumpfen Ende leicht gewölbt war. Er hielt das Blatt immer gut fest. Beim Vordengeln ragte das Blatt etwa einen Millimeter über die Auflage des Ambosses hinaus. Großvater platzierte einen Schlag dicht neben dem anderen, bis er fast an der Spitze angelangt war. Seine Hammerschläge kamen nur aus dem Handgelenk heraus. Sie schallten weithin ins Dorf hinein.
Dann