Genau hierin liegt die Begründung für den Begriff „Konstruktivismus“: Die von dem Subjekt wahrgenommene „Wirklichkeit“ ist immer (zumindest auch) Konstrukt des Subjektes. In Bezug zum Belastungs-Beanspruchungs-Modell erkennen wir einen wichtigen Zusammenhang. Nicht die objektive Situation führt zu einer psychischen Beeinträchtigung, sondern die individuelle Bewertung der Situation, z. B. auf der Grundlage kognitiver Bewertungen.
2.1.2 Identität
Siebert definiert den Begriff „Ich-Identität“ wie folgt: „Ich-Identität ist die angesammelte Zuversicht, dass das eigene innere Gleichgewicht und die eigenen inneren Folgen mit dem Gleichgewicht und der Kontinuität in den Augen anderer übereinstimmen“ (Siebert 1985, S. 12).
Dieses innere Gleichgewicht beruht auf einem Abgleich der Selbstwahrnehmung mit der Fremdwahrnehmung. Diese Wahrnehmung wiederum ist eine Interpretation seiner selbst und der Umwelt auf der Grundlage von Deutungsmustern. Bevor wir zu einer Definition der Deutungsmuster kommen, soll weiter auf die Konstruktivität der eigenen Wahrnehmung, d. h. die Interpretation seiner selbst und der Umwelt eingegangen werden.
Ausgehend von dem oben beschriebenen konstruktivistischen Verständnis geht der Deutungsmusteransatz davon aus, dass diese Selbst- und Umweltinterpretation die soziale und subjektiv wahrnehmbare Realität erst schafft:
„Kennzeichnend für den Deutungsmusteransatz ist das Moment des Deutens sozialer Realität. Durch individuelle Deutung bzw. Sinnzuschreibung entsteht die soziale Wirklichkeit gewissermaßen erst. Eine nicht gedeutete soziale Realität ist nicht existent. Dies heißt, dass die soziale Realität dem einzelnen Menschen nicht als eine objektiv und eindeutig vorgegebene Welt begegnet, sondern vielmehr als ein Netz von Bedeutungen“ (Arnold 2003, S. 63).
In Bezug auf die eigene Wahrnehmung bedeutet dies, dass für das Individuum nicht eine „objektive Realität“ bestimmend ist, sondern die subjektiv wahrgenommene Umwelt sowie die daraus resultierende Interpretation seiner selbst und der „sozialen Realität“. Gerade dies beschreibt die konstruktivistische Dimension des Deutungsmusteransatzes.
Erneut kann an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass psychische Beeinträchtigungen im Wesentlichen von der Konstruktion der sozialen Realität bestimmt sind.
2.2 Definition des Begriffes „Deutungsmuster“
Eine Identität basiert auf der Interpretation seiner selbst sowie seiner Umwelt sowie eines „inneren Abgleichs“ der Fremd- und Selbstwahrnehmung. Diese Wahrnehmung und Interpretation ist ausgehend von dem Konstruktivismus nicht eine objektive Wahrnehmung, sondern ein subjektives Konstrukt. Ausgehend von dem Deutungsmusteransatz nach Arnold basiert eben diese Interpretation oder auch diese Konstruktion der Selbst- und Umweltwahrnehmung auf den sogenannten Deutungsmustern.
Der Begriff „soziale Deutungsmuster“ stammt aus der Soziologie und wurde erstmalig in einem Aufsatz von Ulrich Oevermann (1973) erwähnt. Dieser definierte Deutungsmuster als „Ensemble von sozial kommunizierbaren Interpretationen der physikalischen und sozialen Umwelt“ (ebenda, S. 4).
Diese Deutungsmuster sind nach Oevermann die durch die Sozialisation entwickelte Basis der „inneren Logik“ (ebenda, S. 9), d. h. der Einstellungen, Werteorientierungen, aber auch Erwartungen, welche die individuelle Deutung oder Interpretation der Umwelt prägen. Deutungsmuster dienen nach Oevermann dazu, dem Individuum ein Leben innerhalb des sozialen Umfeldes zu ermöglichen (Kompatibilität), das Handeln zu bestimmen und Lösungen für Probleme des Handelns anzubieten. Wichtig ist dabei jedoch, dass diese Deutungsmuster gesellschaftlich vermittelt, d. h. kommuniziert worden sind: „Soziale Deutungsmuster sind intersubjektiv kommunizierbare und verbindliche Antworten auf objektive Probleme des Handelns“ (ebenda, S. 12). Deutungsmuster sind also nach Oevermann intersubjektiv gültig und kommunikativ vermittelbar. Sie können darüber hinaus latent (unterschwellig) oder manifest (nach außen hin erkennbar) vorhanden sein. Oevermann beschreibt die im Subjekt vorhandenen Deutungsmuster als ein „System“, welches entwicklungsoffen ist:
„Zentral für den hier zu behandelnden Ansatz ist demnach die These, dass soziale Deutungsmuster als Weltinterpretationen mit generativem Status gedacht werden, die prinzipiell entwicklungsoffen sind“ (ebenda, S. 9).
Diesen soziologischen Begriff machte u. a. Arnold (1985) für die Erwachsenenpädagogik nutzbar, denn er erkannte in dem Konzept der Deutungsmuster eine präzise Beschreibung präexistenter Strukturen, welche das Lernen Erwachsener prägen können. Ein Lernprozess ist demnach nichts anderes als die Suche nach „intersubjektiv kommunizierbaren und verbindlichen Antworten und Wissenssachverhalten“ (ebenda, S. 9).
Arnold verband die Erkenntnisse des soziologischen Deutungsmusteransatzes mit den bis dahin in der Erwachsenenpädagogik vorherrschenden identitätstheoretischen, erfahrungsorientierten und biografieorientierten Ansätzen (vgl. Hoerning 1991) sowie der neueren Systemtheorie (vgl. Luhmann 1984). In diesem erkenntnistheoretischen Zusammenhang definiert Arnold den Begriff „Deutungsmuster“ wie folgt:
„Deutungsmuster lassen sich definieren als (…) die mehr oder weniger zeitstabilen und in gewisser Weise stereotypen Sichtweisen und Interpretationen von Mitgliedern einer sozialen Gruppe (…) die diese zu ihren alltäglichen Handlungs- und Interaktionsbereichen lebensgeschichtlich entwickelt haben. Im einzelnen bilden diese Deutungsmuster ein Orientierungs- und Rechtfertigungspotential von Alltagswissensbeständen in der Form grundlegender, eher latenter Situations-, Beziehungs- und Selbstdefinitionen, in denen das Individuum seine Identität präsentiert und seine Handlungsfähigkeit aufrecht erhält“ (Arnold 1985, S. 23).
Die o. g. Theoriebezüge sind eindeutig zu erkennen:
Soziologie (vgl. Oevermann 1973): „Deutungsmuster lassen sich definieren als (…) die mehr oder weniger zeitstabilen und in gewisser Weise stereotypen Sichtweisen und Interpretationen von Mitgliedern einer sozialen Gruppe (…).“
Deutungsmuster entstehen durch einen gesellschaftlichen Sozialisationsprozess. Sie werden von den Mitgliedern einer sozialen Gruppe (z. B. Milieu) durch die Erziehung, das Schulwesen und sonstige gesellschaftliche Zusammenhänge (Vereine, Kirchen etc.) „tradiert“.
Biografieforschung: „die diese zu ihren alltäglichen Handlungs- und Interaktionsbereichen lebensgeschichtlich entwickelt haben (…).“
Neben dem gesellschaftlichen Bezug verfügen Deutungsmuster über eine biografische Dimension insofern, als dass sich die Deutungsmuster lebensgeschichtlich entwickeln. Jede Erfahrung prägt den Deutungsmusterhorizont und umgekehrt. Wie bei Oevermann so handelt es sich auch bei Arnold bei der Summe der Deutungsmuster um ein System, welches im Verlauf des Lebens ausgebildet und beeinflusst wird. Hier besteht ein weiterer systemtheoretischer Bezug (vgl. Luhmann 1984): Dieses System der Deutungsmuster wird als ein offenes System mit relativer Flexibilität der Deutungsmuster angesehen. D. h. das System ist relativ offen für Einflüsse aus der Umwelt und in der Lage, sich dieser Umwelt anzupassen. So steht die eigene Deutung immer in einer wechselseitigen Auseinandersetzung mit der Umwelt (Zirkularität), wobei in neuen Situationen das soeben Erlebte auf Konsistenz mit dem früher Erlebten und ggf. Bewährten überprüft wird.
Identitätstheorie (vgl. Siebert 1985): „Im einzelnen bilden diese Deutungsmuster ein Orientierungs- und Rechtfertigungspotential von Alltagswissensbeständen in der Form grundlegender, eher latenter Situations-, Beziehungs- und Selbstdefinitionen, in denen das Individuum seine Identität präsentiert und seine Handlungsfähigkeit aufrecht erhält.“
Aufgrund der lebensgeschichtlich entwickelten Deutungsmuster