Genau an dieser Stelle setzt das Konzept des emotional-archetypischen Deutungslernens an. Anlehnend an Enno Schmitz dient als Grundlage des Konzeptes die Annahme, dass im Kontext von Weiterbildungsmaßnahmen jeglicher Art beständig überlappende Motive der Teilnehmer in den Lehr-/Lernkontext einfließen. Gemäß den heutigen sozioökonomischen Rahmenbedingungen (siehe Punkt 1.2) ist davon auszugehen, dass ein repräsentativ sehr hoher Anteil der Bevölkerung unter den Auswirkungen von Fehlbeanspruchungen am Arbeitsplatz, Burn-out, Depression, Angstsyndromen etc. leidet und alle gesellschaftlichen Kontexte, so auch der Kontext der institutionellen Erwachsenenbildung (unabhängig davon, ob es sich dabei um betriebs- oder behördeninterne Weiterbildungsveranstaltungen, Maßnahmen der allgemeinen Erwachsenenbildung oder sonstige handelt), von diesen psychischen Fragestellungen beeinflusst werden. An dieser Stelle soll bereits die Hypothese aufgestellt werden, dass Fragen nach fachlicher Qualifikation, überhaupt alle Fragen des fachdidaktischen Wissenserwerbs niemals losgelöst von biografischen, lebenswelt- und lebensgeschichtlich bezogenen psychodynamischen Einflussfaktoren und Motiven zu lösen sind. Diese Arbeit soll am Beispiel der psychischen Beeinträchtigungen und Depression der konkreten Frage nachgehen, wie dieser von Enno Schmitz als erwachsenenpädagogisches Dilemma bezeichneten Herausforderung der Grenzüberschreitungen zwischen dem Wissenserwerb und den Fragen der Identität begegnet werden kann, ohne jedoch die Grenzen zur Therapie zu überschreiten. Es gilt, Antworten darauf zu finden, wie eine im Kontext der Erwachsenenbildung stattfindende diffus strukturierte Interaktion und Mechanismen der Übertragung und Gegenübertragung vor dem Hintergrund der früh prägenden primären Bindungsstrukturen vom Erwachsenenpädagogen erkannt werden können und wie damit umzugehen ist. Um mit den Worten von Enno Schmitz zu sprechen, stellt sich die bedeutsame Frage, wie im Kontext der Erwachsenenbildung unter Berücksichtigung der besonderen sozioökonomischen Umstände „die Balance zwischen der Diffusität und Spezifität der Beziehung“ (ebenda, S. 64) gewahrt werden kann.
1.5.3 Unterscheidung von Therapie, Beratung und Erwachsenenbildung: weiterer Überblick
Anknüpfend an die Überlegungen von Enno Schmitz zu den Grenzen von Erwachsenenpädagogik und Therapie beschäftigte sich Bernd Dewe (2005) mit seinem Text „Einheit - Differenz - Übergänge, Auf dem Weg zu einer Metatheorie der Kommunikationsformate Erwachsenenbildung, Beratung und Therapie“ mit dieser Fragestellung, ohne dabei auf den Kern der Problematik dieser Arbeit einzugehen, wie Erwachsenenpädagogen mit psychischen Beeinträchtigten oder Depressionen bei Teilnehmern umgehen sollen, ohne therapieren zu wollen. Die Differenzierung von Dewe beispielsweise, dass sich Beratung auf situationsbezogenes Wissen konzentriert (Wissen zur Bewältigung konkreter Lebenslagen), Therapie auf subjektbezogenes Wissen (Biografie des Individuums sowie Aufdeckung und Bearbeitung von bewussten und unbewussten Motiven), erscheint gerade im Hinblick auf die Diskussionen um die Subjektorientierung (siehe oben: reflexive Wende), die Lebensweltbezogenheit sowie die neueren Erkenntnisse des emotionalen Lernens sehr oberflächlich differenziert zu sein.
Dass auch die Erwachsenenbildung eine starke Bezugnahme auf das subjektbezogene Wissen und sogar die subjektbezogenen Emotionen erfährt, wird in den folgenden Texten deutlich, auf die an dieser Stelle nur kurz verwiesen werden soll:
Gieseke, W. (2007): „Lebenslanges Lernen und Emotionen und Wirkungen von Emotionen auf Bildungsprozesse aus beziehungstheoretischer Perspektive“
Ciompi, L. (1999): „Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik“
Arnold, R. (2003): „Emotionale Kompetenz und emotionales Lernen in der Erwachsenenbildung“
Holzapfel, G. (2007): „Komplexes Lernen aus der Sicht der Erwachsenenbildung“
Schüßler, I. (2007a): „Nachhaltigkeit der inneren Systematik“ als Bestandteil der „Nachhaltigkeit in der Weiterbildung“
Siebert, H. (2005): „Emotionale Konstruktion der Wirklichkeit“, in: „Pädagogischer Konstruktivismus: Lernzentrierte Pädagogik in Schule und Erwachsenenbildung“
Zu den Arbeiten, die über eine gewisse Relevanz für die Fragestellung dieser Arbeit verfügen und über die Diskussion der Subjektorientierung der Erwachsenenbildung hinausgehen, aber die von Schmitz als erwachsenenpädagogisches Dilemma bezeichnete Herausforderung der Grenzüberschreitungen zwischen dem Wissenserwerb und den Fragen der Identität sowie die konkrete Grenzziehung zwischen Erwachsenenbildung und Therapie behandeln, zählt die von C. Haug mit dem Namen „Trendarbeit: Bilden oder Heilen? Erwachsenenbildung zwischen Psychotherapie und Persönlichkeitsentfaltung“ (1985), welche jedoch im Kern die wesentlichen oben beschriebenen Gedanken von Enno Schmitz aufgreift. Zuletzt soll in diesem Zusammenhang auf die Ausführungen von Kirsten Lehmkuhl (2002) zur Subjektorientierung und Professionalisierung in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik in „Unbewusstes bewusst machen. Selbstreflexive Kompetenz und neue Arbeitsorganisation“ und ihre Bezugnahme zur Themenzentrierten Interaktion von Ruth Cohn (1975) sowie die arbeitsorientierte Exemplarik nach Lisop und Huisinga (1994) eingegangen werden. Kirsten Lehmkuhl ist Psychologin und Privatdozentin an der Universität in Hamburg für das Fachgebiet Berufs- und Wirtschaftspädagogik und entwickelte in ihrem o. g. Buch eine Lerntheorie basierend auf dem Konzept des Unbewussten nach Sigmund Freud. Sie verbindet Erkenntnisse der Industriesoziologie über neue Formen der Arbeitsorganisation, wie z. B. der Entwicklung der Gruppenarbeit, mit den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie, um hierdurch Anregungen zu erhalten, wie neue Führungsmethoden, betriebliche Bildungskonzepte sowie das Lernen einzelner Beschäftigter, „implizite Grundannahmen des eigenen wie auch des Handelns von Vorgesetzten und KollegInnen aufzudecken und zu hinterfragen“ (Buchdeckel des o. g. Buches), ermöglicht werden können. Trotz der thematischen Nähe der Arbeit Lehmkuhls und der von ihr dargestellten Beispiele subjektorientierter und psychoanalytisch geprägter pädagogischer Didaktik der themenzentrierten Interaktion sowie der arbeitsorientierten Exemplarik zu der Fragestellung dieser Arbeit muss ein deutlicher Unterschied hervorgehoben werden: In den von ihr zuerst genannten Arbeiten und Konzepten geht es um die Ermöglichung des gruppen- und berufsspezifischen Lernens, welches den psychodynamischen Aspekten des Menschen sowie des menschlichen Miteinanders gerecht wird. Im weitesten Sinne könnte dies auch die Bedeutung von psychischen Beeinträchtigungen beim Lernenden im Kontext von gruppendynamischen Prozessen oder berufs-, betriebs- oder handlungsorientierten Qualifizierungs- und Lernprozessen im Kontext der Produktions- oder Dienstleistungserbringung beinhalten, aber dieser Aspekt wird nicht konkret von Lehmkuhl, Cohn oder Lisop und Huisinga genannt. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt nicht auf der Erörterung der Rolle des Subjektes in erwachsenenpädagogischen Kontexten allgemein und der Bedeutung der psychodynamischen Aspekte für das Lehren und Lernen, sondern es geht um die Erörterung von Aspekten, die für einen Erwachsenenpädagogen konkret von Bedeutung sind, um mit den aktuellen Entwicklungen (wie im nächsten Kapitel noch einmal kurz skizziert wird) im Hinblick auf psychische Beeinträchtigungen (allen voran die affektiven Störungen) umgehen zu können.
Abschließend soll verdeutlicht werden, dass das Konzept emotional-archetypischen Deutungslernens sich als didaktisches Konzept im Sinne der Definition von Horst Siebert versteht. Dieser definiert Didaktik als „die Vermittlung zwischen der Sachlogik des Inhalts und der Psychologik des/der Lernenden. Zur Sachlogik gehört eine Kenntnis der Strukturen und Zusammenhänge der Thematik, zur Psychologik die Berücksichtigung der Lern- und Motivationsstrukturen der Adressat/innen“ (Siebert 1996, S. 2). Das Konzept emotional-archetypischen Deutungslernens berücksichtigt nun in ganz besonderer Weise die Psychologik des Teilnehmers, nicht jedoch allein im Hinblick auf die Lern- und Motivationsstrukturen, sondern im Hinblick auf die emotionalen Strukturen mit dem Schwerpunkt der „Angst- und Belohnungsachse“, wie zu einem späteren Zeitpunkt noch erläutert werden soll. Das Konzept überschreitet dabei bewusst nicht die Grenze zwischen Erwachsenenbildung und Therapie, hat also nicht den Anspruch zu heilen, sondern lediglich zwei genuin pädagogische Ziele zu verfolgen: Selbstreflexion als „Element pädagogischer Professionalität“ (Hierdeis, Vortrag vom 26. 10. 2009) sowie