»gäbe das Nichtidentische frei, entledigte es noch des vergeistigten Zwanges, eröffnete erst die Vielheit des Verschiedenen, über die Dialektik keine Macht mehr hätte. Versöhnung wäre das Eingedenken des nicht länger feindseligen Vielen, wie es subjektiver Vernunft anathema ist. Der Versöhnung dient Dialektik«.50
Das Nichtidentische wird so zum Leitbegriff eines Versöhnungsdenkens in geschichtsphilosophischer Reichweite. Die epistemologische Korrektur, die erkenntnisreflexive Maxime der Negativen Dialektik wird eingebettet in einen Wahrheitsanspruch, den Begriffe einlösen sollen: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit«51. Vom Standpunkt der philosophischen Referenz heißt dies:
»Die Adornosche negative Dialektik will nichts anderes. Materialistisch sucht sie, noch das Leiden in sich hineinzunehmen […], um einem veränderten Begriff von Erkenntnis den Weg zu bahnen. Genügen würde ihm erst eine solche, welche dem Leiden, das in ihren ›Begriffen sich sedimentierte‹, zum Eingedenken verhülfe«52.
Der Terminus ›materialistisch‹ gemahnt freilich an ein marxistisches Widerspiegelungstheorem in der Erkenntnisbegründung, dem Adorno vehement widersprochen hat: »Hinter jener These [des Materialismus] steht die Verachtung des Geistes zugunsten der Vormacht materieller Verhältnisse als des Einzigen, das da zähle«53. Zudem bleibt die aporetische Frage, die unterhalb einer ethischen Forderung an die Erkenntnis virulent ist, ungelöst: Wenn Leiden, zumal geschichtliches Leiden, in »Begriffen sich sedimentierte«, wie drückt sich diese Sedimentierung im Begriff aus? Und wie ist die Erfahrungsgeschichte in geschichtlichen Begriffen aufbewahrt, sodass sie als beredtes Leiden sich erneut artikulieren kann? Die Crux solcher Fragen liegt darin begründet, dass Begriffe, zumal die philosophischen Termini, aus diskursiven Praktiken stammen, diese aber nie selber direkte Übersetzungen erlebter Leidensprozesse sind. Zwar mögen sich diese diskursiven Praktiken, ihre semantischen Haushalte, durchaus aufgrund von realgeschichtlichen Ereignissen verändern bzw. umcodieren, jedoch sind sie keine kollektiven Gedächtnisbehälter, in denen geschichtliches Leiden eingelagert ist. Wäre dem so, hieße dies, dass geschichtliche Begriffe, zumal auf der Ebene philosophischer Terminologie, ihre semantischen Veränderungen direkt von diesen geschichtlichen Leidenserfahrungen erhalten, die sie widerspiegeln. Dies würde aber den diskursiven Veränderungspraktiken philosophischer Termini widersprechen, die gerade im Prozess intertextueller Auseinandersetzungen ihre originären Bedeutungsfestlegungen wie Wandlungen vollziehen. Der philosophische Begriff ›Freiheit‹ hat zum Beispiel seine eigene Geschichte von Bedeutungsverschiebungen, die aus den philosophischen Abarbeitungen seiner textuellen Auslegungspraktiken stammen, ist aber niemals ein direktes Sediment geschichtlicher Leidenserfahrungen. Zu meinen, dass in philosophischen Begriffen Leidenssedimente enthalten sind, macht diese Begriffe tendenziell zu Widerspiegelungsvokabularien von gesellschaftlichgeschichtlichen Leidensereignissen. Dies umgeht aber die begriffsgeschichtliche Deutungsmaxime, dass historische Begriffe nur der Niederschlag von vergangenen Artikulationspraktiken sind.54 Diese entwerfen niemals eine expressiv-sinnliche Textur geschichtlicher Leidenserfahrung selbst. Leidensgeschichten müssen ›erzählt‹ werden; dies ist ihre Beredsamkeit aus dem erlittenen Schmerz und Protest. Sie finden sich unter Umständen im historischen Quellenmaterial erzählend angezeigt, sedimentieren sich aber nicht im Schatten philosophischer Begriffe, die sich auf das Sinnganze der historischen Erfahrung auslegen.
Daher gilt: Historische Begriffe referieren auf eine vorgegebene textuelle Deutungspraxis, Leidenserzählungen referieren hingegen auf erlebte Geschichtsereignisse, die expressiv ›beredt‹ sein wollen. Die Hermeneutik philosophischer Begriffe ist nicht auf eine Resurrektion von Leidensartikulationen ausgelegt – ihr Ingenium ist es gerade, diese vergessen zu lassen. An historisch-philosophischen Begriffen kann nachträglich negativdialektisch nichts zum ›Eingedenken‹ gebracht werden. Es sei denn, man überdehnt sie in ihrer Bedeutsamkeit, sodass sie zu emphatischen Statthaltern einer ethischen Sollensforderung werden. Bei aller Sympathie dafür bleibt aber der Einspruch, dass ethische Forderungen nicht erkenntniskritische Bedenken und Reflexionen ersetzen können. Dies wäre auch für Adorno unzulässig. Das Fazit lautet daher: Der Begriff des Nichtbegrifflichen, der das Nichtidentische ausmachen soll, kann nicht dadurch gerettet werden, dass er zum materialistischen Schattensubstrat geschichtlicher Philosopheme erklärt wird. Die epistemologische Begriffskritik ist immer noch das Herzstück der Negativen Dialektik, auch wenn in ihr Appelle an die zivilisatorische Leidensgeschichte enthalten sind. Diese ist jedoch primär in der Dialektik der Aufklärung nacherzählt und geschichtsphilosophisch gedeutet.
Viertens gibt es Argumentationsweisen, die das Nichtidentische – ganz im Sinne der Intention der Negativen Dialektik – nicht fixieren, nicht versuchen, es begrifflich einzuholen. Für sie gilt, was der negative Reflexionsmodus der Negativen Dialektik intendiert: keine Klassifikation, keine Substantivierung durch den Begriff, um dem Begriffslosen endlich habhaft zu werden. Das Nichtidentische – und die paradoxale Formulierung muss hier sein – ist dasjenige, was nur im Abweisungsmodus kritisch-reflexiven Denkens sich als ein Entziehendes, als ein Nichtfassbares, als ein Unaussprechliches dem Begreifen widerständig zeigt. Der Terminus ›Nichtidentisches‹ ist eine Grenzmarkierung, ein Argumentationstopos, der sich der Identifikationsgewalt allen begrifflichen Denkens negativ-reflexiv inne wird: »Negative Dialektik ist nicht Reflexion auf die Sache unmittelbar, sondern Reflexion dessen, was daran hindert, der Sache selbst inne zu werden«55. Auch wenn das Nichtidentische gern zum Platzhalter für alle Begrifflichkeiten des Residualen herangezogen wird, so geht es in dieser Lesart nicht um so etwas wie das Übriggebliebene, wenn der Begriff versagt. Vielmehr wird ein negativ-kritischer Reflexionsmodus ins Spiel gebracht, der das Nichtbegriffliche gerade nicht benennt, es aber als selbstreflexives Widerspruchsmoment des begrifflichen Denkens rehabilitiert.
Solchermaßen geht vom Nichtidentischen der Odem des Unvollkommenen aus, das dem Begriff zu eigen ist. Unvollkommenheit ist aber, wie Rosenkranz’ Ästhetik des Häßlichen besagt, nicht bloß das Schlechte, sondern in ästhetischer Hinsicht etwas, was sich erst noch herzustellen hat: »Das Unvollkommene im positiven Sinn entbehrt nur der weiteren Gestaltung, sich ganz als das zu zeigen, was es an sich schon ist«56. Was Adorno als Signifikationsfähigkeit des Begriffs kritisch detektiert, ist das Bestreben des Begriffs nach Vollkommenheit, wenn er zu seinem systematischen Abschluss strebt. Seine qualitative Unvollkommenheit jedoch, die sich als Erfahrungsnegation anzeigt, ist sein konstitutiver Mangel an sprachlicher Ausdruckskraft, an sprachlicher Poiesis. Die begriffliche Funktionalität der Welterschließung schattet ab, dass die Sprache in ihrer Vollkommenheit einen Mehrwert hat, der über den Begriff hinausgeht. Begriffssprache ist eben nicht alles, was die Sprache leistet.
Will man dieses »Mehr«57, dieses den Begriff Übersteigende, das sich erkenntnisreflexiv am Nichtidentischen anzeigt, kenntlich machen, das heißt versuchen zu erklären, so muss dieser Versuch sprachtheoretisch vorgehen. Dies klammert aus, was in der Negativen Dialektik »als untilgbare Differenz von Begriff und Realität […] bekräftigt«58 ist; denn sie ist das Mal, »das die unaufhebbare Nichtidentität von Subjekt und Objekt in der Erkenntnis hinterläßt«.59 Adornos Begriffskritik stützt sich immer noch darauf, dass die Begriffsbedeutung im referentiellen Bezug zu ihrer Sache steht, und zwar so, dass diese als das Andere, als das durch den Begriff Nichtaufhebbare, gedacht wird. Die referentielle Abwesenheit der Sache im Begriff wird so zur Bestimmung des Nichtidentischen. Wenn aber der begriffliche Verweisungssinn der Begriffe auf die stumme Sache nicht mehr federführend ist, also der Einbezug der Objektreferenz ausgeklammert wird, müsste das Begriffslose, der andere Name für das Nichtidentische, auch für eine Interpretation offenstehen, die sich – sprachtheoretisch gewendet – als Reflexion der Begriffstranszendenz auslegt. Gerade weil