Mit dieser Grundidee korrespondiert eine alternative Denkform, die Adorno dem philosophischen Denken gewissermaßen als ein Therapeutikum vorschlägt: das Denken in begrifflichen Kohärenzen, in konstellativen Begriffsanordnungen, die, so die Vorstellung Adornos, »um die zu erkennende Sache sich versammeln«, damit es der eigentlichen »Intention des Begriffs, das Gemeinte ganz auszudrücken«21, endlich zum Ausdruck verhilft. Einher geht damit, dass sich der Begriff der Philosophie sachlich ändern muss. Konkret heißt dies: Die Philosophie soll nicht mehr idealistisch oder materialistisch, schon gar nicht seinsontologisch sein; sie soll gegen den Strom des philosophischen Mainstreams eine Philosophie der Nichtidentität im Namen eines bisher unterdrückten Rechts des Begriffslosen, des im Erkenntnisprozess als subaltern Abgewiesenen sein: »Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen«22. In dieser veränderten Philosophie ist die exakte Darstellung philosophischer Erfahrung an eine Ausdruckskompetenz gebunden, die das Unbegriffliche, das Inkommensurable, sprachlich zu verobjektivieren versucht – mithin eine sprachästhetische Produktionsweise, deren Analogon in der Kunstproduktion angelegt ist.
3. Philosophische Referenzen
Die hier vorgenommene kurze Skizzierung der Grundidee der Negativen Dialektik spart notwendigerweise weitere Denkmotive aus, die dieses Werk durchziehen. Der adornitische »Geist des notwendig Nichtidentischen«23 setzt vorwiegend an der Abbreviatur philosophischer Begriffssystematik an, um deren Logik puristischer Bedeutungssprache ins Schwimmen zu bringen. Im Rahmen dieser Abhandlung können die philosophischen Referenzen, auf die Adorno rekurriert, um sie einerseits zu kritisieren, andererseits aber argumentativ gewendet für die Grundintention der Negativen Dialektik in Beschlag zu nehmen, nicht in Gänze referiert bzw. reinterpretiert werden. Nur zwei maßgebliche philosophische Bezüge sollen hier dargestellt und verhandelt werden: derjenige, der sich auf Kant, und derjenige, der sich auf die Dialektikkonzeption von Hegel bezieht. An beiden Referenzphilosophen arbeitet Adorno die Kritik ab, die er in seiner Frühschrift Die Aktualität der Philosophie als »Krise des Idealismus«24 gekennzeichnet hat.
Der Idealismus vertrat die unerschütterliche Idee, dass das Sein sich im Denken völlig abzubilden habe. Dies heißt nichts anderes, als dass alles Seiende im Sinne eines Totalitätsanspruchs erfassbar wäre. Ausgehend von den nachidealistischen Philosophien konstatiert Adorno: »Die Angemessenheit von Denken an Sein als Totalität aber hat sich zersetzt, und damit ist die Idee des Seienden selber unerfragbar geworden, die einzig über einer runden und geschlossenen Wirklichkeit als Stern in klarer Transparenz stehen könnte«25. Und bezogen auf die Erkenntnisprämisse des Idealismus heißt es: »Die autonome ratio – das war die Thesis aller idealistischen Systeme – sollte fähig sein, den Begriff der Wirklichkeit und alle Wirklichkeit selber aus sich heraus zu entwickeln. Diese Thesis hat sich aufgelöst«26. Wenn diese Thesis sich aufgelöst hat, so wäre dies – und Adorno folgert so – nicht nur eine Liquidation der genuin philosophischen Erfahrungsbegründung, sondern mehr noch »die Auflösung der Philosophie in Einzelwissenschaft« bzw. die Umwandlung der Philosophie in wissenschaftstheoretische Legitimationsarbeit.27 Da aber Philosophie keine Forschungsanleitung ist, vielmehr Deutungsarbeit, um die »Rätselfiguren des Seienden«28 zu dechiffrieren, bleibt die philosophische Durchdringung der phänomenalen Welt immer noch zu leisten. Nicht etwa, um »die Wirklichkeit sinnvoll darzutun und zu rechtfertigen«, sondern deren »Rätselgestalt blitzhaft zu erhellen und aufzuheben«. Dies heißt konkret, die Rätselfiguren des Wirklichen als konstellative »Antwort« auf die philosophische Deutungsfrage »lesbar« zu machen.29
Die Quintessenz von Adornos Kritik am Totalitätsdenken des Idealismus ist nicht dessen völlige Liquidation. Gemessen an den Vorgaben Kants und Hegels, die er für die Negative Dialektik reklamiert, ergibt sich eine argumentative Doppelstrategie: »Mit Kant gegen Kant, aber auch mit Hegel gegen Hegel, dies macht eines der Hauptmotive des Adornoschen Denkens aus«30. Substanziell bedeutet dies:
»Indem Adorno der Hegelschen Dialektik in ihrem wesentlichsten Punkt – der Geistkonzeption – nicht folgt, indem er aber gleichwohl an einem Verständnis von Dialektik festhält, demzufolge letztere nicht nur ein methodisches Instrument darstellt, sondern etwas mit der Sache selbst zu tun hat, ist er Nicht-Hegelianer und Hegelianer zugleich. Insofern Adorno andererseits Kant dahin gehend folgt, dass auch für ihn alles Erkennen vorgängig an Begriffe gebunden ist, über die das erkennende Subjekt nicht frei verfügt, die ihm vielmehr erst einmal vorgegeben sind, weshalb das ›Ding an sich‹ in der Tat (erst einmal) nicht zu erfassen ist, ist er Kantianer. Zugleich aber ist er auch Nicht-Kantianer, denn: Die alle Erkenntnis vorgängig bestimmenden Begriffe versteht Adorno nicht als Begriffe, die dem Subjekt transzendental und damit nicht hintergehbar vorgegeben sind, sondern er versteht sie als historisch entwickelte und deshalb als sehr wohl hintergehbare«31.
Die Auseinandersetzung mit Kant und Hegel ist für die Negative Dialektik elementar, denn Kants numinos bleibendes ›Ding an sich‹ konstituiert sich erst durch die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, mithin durch subjektive Begriffsbildungskompetenz. Damit wird aber erschlichen, dass alles Seiende unter eine begriffliche Subsumtion fällt, die auf das Vermögen eines transzendental operierenden Subjekts zurückweist. Zwar ist das ›Ding an sich‹ bei Kant unbestimmt, das heißt begrifflos unbegriffen, jedoch ohne es gäbe es keine verstandeskategoriale Abbreviatur durch einen dieses ›Ding an sich‹ bezeichnenden Begriff. Die Crux, die Adorno an Kant festmacht, ist die, dass dieser »mit dem Ding-an-sich an der ›Idee der Andersheit‹ festhalte«32, aber die Vermitteltheit von Subjekt und Objekt ausblende. Die Rehabilitierung der Andersheit, die alles einzelne Seiende für sich hat, ist aber der systematische Ansatzpunkt, den Adorno in der Auseinandersetzung mit Kant reklamiert. Die Negative Dialektik setzt, indem sie den kantischen Vorrang des erkennenden Subjekts und damit dessen begriffliches Subsumtionsbegehren durchstreicht, auf die Erfahrbarkeit der »Verflochtenheit« mit dem Seienden; denn nur so kann ersichtlich werden, »daß alles mehr sei, als es ist«33. In der Auseinandersetzung mit Kant wird der Begriff in seiner Erkenntnisfunktion zurückverwiesen auf das, was ihm unbegrifflich zugrunde liegt: Referenz auf materiale-sinnliche Erfahrungen. Ob diese konstellativ-begrifflich einzuholen sind, bleibt die Kernfrage dieser Abhandlung.
Adornos Kritik an Heideggers Seinsdenken zeigt dessen Leugnung jedes dialektischen Denkens auf. Wird das Seiende in den umfassenden Begriff des Seins völlig eingezogen, verschwindet nicht nur jede Differenz von Sein und Seiendem, es kann auch die Vermittlung von Sein und Seiendem nicht begriffen werden. Das Urteil lautet: »Die Dialektik von Sein und Seiendem: daß kein Sein gedacht werden kann ohne Seiendes und kein Seiendes ohne Vermittlung, wird von Heidegger unterdrückt: die Momente, die nicht sind, ohne daß das eine vermittelt wäre durch das andere, sind ihm unvermittelt das Eine, und dies Eine positives Sein«34. Die Differenz aber, und hier nimmt Adorno das dialektische Denken Hegels ernst, wird ausgetragen, wenn man das Seiende, seine vorgängige Nichtbegrifflichkeit, nicht zugunsten einer identitätsstiftenden Vermittlung aufhebt. Dies jedoch wird durch die positiv bestimmte Dialektik Hegels konterkariert: »Hegel beutet aus, daß das Nichtidentische seinerseits nur als Begriff zu bestimmen sei; damit ist es ihm dialektisch weggeräumt, zur Identität gebracht«35. Während Heidegger die Differenz von Sein und Seiendem ontologisch wieder glättet, indem das Sein das ›mythisch‹ Umfangene ist, geht Hegel zunächst von der Nichtidentität, von der Andersartigkeit des Seienden aus: Es ist unbestimmt und in dieser Unbestimmtheit konstituierendes Moment seiner begrifflichen Identifizierung. Gerade weil das einzelne Seiende (als Einzelnes)