Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 40/41. Hanno Plass. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hanno Plass
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783866746428
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Symbol dieser transzendenten Welt erkennt, bildet sich in ihm die Vorstellung (bzw. die »Ahnung«) einer imaginären Grenze, jenseits derer das individuelle, in die Formzwänge der Gesellschaft eingebundene Leben sich »an dem erlöst, was in seine Form nicht mehr eingeht, sondern über ihm und ihm gegenüber ist.«16

      Diese Erlösungskonzeption beruht auf einem romantischen, auch von Adorno im Abituriums-Aufsatz adaptierten, zweipolig konstruierten Naturbegriff. Einem materiellen, Natur als sichtbares Phänomen kennzeichnenden Pol steht dabei ein von Simmel im Begriff ›Seele‹ erfasster, transzendenter Pol gegenüber, der für jene verborgene Dimension von Natur steht, innerhalb derer Erlösung, verstanden als das Ich-Bewusstsein übersteigende, nicht näher klassifizierbare Form von ›Ganzheit‹, sich ereignet. Die Einheit beider Pole vermittelt sich dem Subjekt in einem vorästhetisch konstituierten, jenes ›Gegenüber-vom-Leben‹ symbolisch repräsentierenden Landschaftsbild, dessen Wahrnehmung die dem gesellschaftlich bestimmten Lebensprozess inhärente Dynamik für einen Moment zum Stillstand bringt und damit jene ›Ganzheit‹ als in einer anderen Welt zu verwirklichende Utopie in Aussicht stellt. Vor dem Hintergrund der epochalen, durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Sinnkrise hat Simmels Schüler Georg Lukács diese idealistisch konzipierte Vorstellung von Natur kritisiert und in ein für Adornos weiteres Denken wegweisendes Theorem umgedeutet.

      Lukács: Natur und Sinnverlust

      In der Theorie des Romans (1920) bringt Lukács die Sinnkrise seiner Zeit in einen direkten Zusammenhang mit Simmels romantischem Naturbegriff und bestreitet dabei dessen zentrale These einer im landschaftlichen Erscheinungsbild von Natur sich gleichsam offenbarenden, säkularisierten Erlösungsperspektive. Das »moderne sentimentalische Naturgefühl«, zeitgemäßer Ausdruck eines in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem vom Bildungsbürgertum kultivierten Romantizismus, erscheint Lukács nurmehr als idealistisch verbrämte »Projektion des Erlebnisses, daß die selbstgeschaffene Umwelt für den Menschen kein Vaterhaus mehr ist, sondern ein Kerker«17. Die für Simmel zentrale Bedeutung der transzendenten Dimension im subjektiven Natur- bzw. Landschaftserlebnis kann nach der fundamentalen Erschütterung der bürgerlichen Welt durch den Ersten Weltkrieg keinen unmittelbar wirksamen, »das Trostbringende für das reine Gefühl«18 mehr gewährleistenden Sinnzusammenhang hervorbringen. Auch die Kunst, der Simmel immerhin noch eine begrenzt sinnstiftende »Beziehung zwischen Seele und Natur«19 herzustellen zutraute, entbehrt nun, nach Lukács, jeder »sinnerfüllten Symbolik« (und dementsprechend auch jeder Erlösungsqualität), da sie die »Urschrift« einer ersten Natur, die »stumm, sinnfällig und sinnesfremd«20 der gesellschaftlichen Realität gegenübersteht, nicht mehr zu entziffern vermag. Was sich demgegenüber in Simmels Wahrnehmungsperspektive zeigt, ist durchgängig zweite Natur: durch ästhetische Wirklichkeitskonstitution in Schein verwandelter Ausdruck »vermoderter Innerlichkeiten«21. Die im historischen Prozess unkenntlich gewordene Spur einer ersten Natur löst sich demnach im Landschaftserlebnis unmittelbar »in Stimmung auf« – für Lukács Symptom der »Unmöglichkeit, für das konstitutive Subjekt ein angemessenes konstitutives Objekt«22 finden zu können.

      Erlösung, verstanden als im Innenraum des Subjekts sich ereignender, Seele (Simmel) und Natur in ganzheitlichen Einklang bringender Vorgang, ist für Lukács somit undenkbar geworden. Die (bürgerliche) Kunst ist nicht mehr in der Lage, dem Subjekt einen sinnhaften Bezug zu dem vermitteln zu können, was im Sinne Simmels als Natur noch zu bezeichnen wäre.23 Angesichts dieses Befundes bleibt nicht einmal die Hoffnung, dass ein transzendenter Restbestand an erster Natur sich denjenigen offenbaren könnte, die es auf sich nehmen, die schwache Spur jener ›Urschrift‹ noch verfolgen zu wollen.24

      Adorno I: Naturgeschichte und Schein

      In seinem Essay Die Idee der Naturgeschichte nimmt Adorno 1932 diese Spur auf und greift dabei auf Lukács’ Kritik am Naturbegriff Simmels zurück in der Absicht, die von Lukács geforderte Aufrechterhaltung einer für den gesellschaftskritischen Diskurs elementaren »Antithesis von Natur und Geschichte«25 in Frage zu stellen und damit dessen Versuch der Etablierung eines auch für die Kunst zukünftig maßgeblichen, einpolig materialistisch definierten Naturbegriffs entgegenzuwirken. Um sein Konzept der Naturgeschichte im Sinne einer »Rückverwandlung der konkreten Geschichte in dialektische Natur«26 begründen zu können, übernimmt Adorno Lukács’ Theorem von erster und zweiter Natur, um es soweit zu modifizieren, dass die Spur der von Lukács neutralisierten transzendenten Dimension des Simmel’schen Naturbegriffs fast unmerklich wieder erkennbar wird. Alles im Prozess der Geschichte Erzeugte und Entstandene ist demnach zweite Natur, deren Eigenart darin besteht, real und scheinhaft zugleich zu sein. Im Schein verortet Adorno jetzt auch jene von Lukács als verschollen vermutete ›Urschrift‹, deren Lesbarkeit nun wieder in Aussicht gestellt wird, verbunden mit der Hoffnung auf Versöhnung als vom Geschichtsprozess einzulösendes, metaphysisches »Versprechen«27. »Es ist in Wahrheit die zweite Natur die erste«28, diese zentrale Aussage des Essays erfasst ein dialektisch sich entwickelndes, dem Geschichtsprozess inhärentes Spannungsverhältnis zwischen erster und zweiter Natur, das im Kontext soziohistorischer Realität die Einlösung jenes Versprechens, die Zielvorstellung einer Aufhebung aller gesellschaftlich erzeugten Antagonismen im Begriff der Versöhnung, bezeichnet. Die geschichtserzeugende Dynamik dialektischer Natur entfaltet ihre Wirksamkeit demnach im Innenraum des Subjekts, wo sich der Versöhnungsanspruch vor- bzw. unbewusst in der Wahrnehmung ästhetischen Scheins als jenem Phänomen äußert, das dem Subjekt die Ahnung der in zweiter Natur verhüllten ›Wahrheit‹ einer ersten vermittelt.29 Das später in der Dialektik der Aufklärung geforderte »Eingedenken der Natur im Subjekt«30 wird hier schon benannt als von jener Ahnung quasi geleitete, subjektive Entfaltung dialektischer Natur in der Arbeit am Schein. Kontraproduktiv ist diese dort, wo Schein durch instrumentelle Vernunft in eine technisch verfestigte Form der Objektivierung von (zweiter) Natur gezwungen wird und auf gesellschaftlicher Ebene jene »absolute Einsamkeit« der Subjekte zur Folge hat, die auf ein sich abzeichnendes »Ende der bürgerlichen Ära«31 hindeutet; konstruktiv dagegen ereignet sie sich zunächst dort, wo (Gesellschafts-)Kritik als theoretische Arbeit am Schein »die noch nicht vernünftige Vernunft […] zu sich selbst bringen soll«32, vor allem aber dort, wo Kunst (respektive Musik) als authentische, in ihrem Bestreben, den Schein transparent und die ›Urschrift‹ lesbar machen zu wollen, die Grenze des Form- und Sagbaren erreicht und als nunmehr »entmachtete Schönheit«33 den in dialektischer Natur bewahrten Versöhnungsanspruch an das Subjekt zurückgibt, in dessen Innenraum er auf vorästhetischer, vorbegrifflicher und vorsprachlich-vorkommunikativer Ebene gleichsam verharrt. Unmittelbar äußern aber kann er sich – so die unausgesprochene Konsequenz aus der Naturgeschichtskonzeption und ihrer Weiterführung in der Dialektik der Aufklärung – unter den Bedingungen der »verfestigten Herrschaft von Privilegierten«34 und einer in deren Weltbild festgeschriebenen Einheit von Bild und Begriff letztlich nur dort noch, wo im subjektiven Blick auf Landschaft Natur für einen Moment sich scheinlos, als ›Kunstwerk in statu nascendi‹, zeigt.

      Adorno II: Natur und Versöhnung

      Um der Kunst, dem zwischen subjektivem Bewusstsein und dialektischer Natur sinnvermittelnden Medium, die transzendente Dimension wieder zurückzugewinnen (und sie gleichzeitig vor kulturindustrieller Vereinnahmung zu schützen), trifft Adorno in der Philosophie der neuen Musik von 1949 die Unterscheidung zwischen geschlossenem und offenem bzw. »zerrüttetem«35 (oder auch »fragmentarischem«) Kunstwerk. Während das der klassischen Tradition verpflichtete geschlossene Kunstwerk, wie schon von Lukács beschrieben, auf Bilder und Inhalte der vom Schein geprägten zweiten Natur fixiert ist, gibt demgegenüber das offene »mit seiner Geschlossenheit die Anschaulichkeit preis und den Schein mit dieser.«36 Indem das offene Kunstwerk so das »Nichtabsolute am Widerspruch«37 zwischen im Subjekt verankerter und gleichzeitig im historischen Prozess sich artikulierender dialektischer Natur – die Aufhebung der Antithesis von Natur und Geschichte (Lukács) – auszudrücken versucht, eröffnet es dem Subjekt eine mögliche Perspektive zur Dechiffrierung jener in erster Natur verborgenen ›Urschrift‹, in der sich mehr zeigt als die bildgebundene, vom Schein durchdrungene »zweite, blinde Natur«38 zu zeigen vermag.

      In der Ästhetischen Theorie erkennt Adorno die Problematik dieser Perspektive in der unaufhebbaren Trennung der die dialektische Bewegung blockierenden Bezugsebenen