Gehen wir nun zurück nach Ruanda und der Situation dort, bevor eine Haltung zur Vergangenheit entwickelt wurde: Im Juli 1994 war das Land von der Armée Patriotique Rwandaise (APR), dem militärischen Arm der Rebellenorganisation Front Patriotique Rwandais (FPR), erobert worden, der Völkermord war beendet. Am 4. Juli waren APR-Kämpfer in die Hauptstadt Kigali einmarschiert, am 17. des Monats hatten sie die letzte größere Stadt, Gisenyi, im Nordwesten des Landes an der Grenze zu Zaire, besetzt. Zwei Tage später hatte die FPR infolge des vollständigen Sieges beschlossen, ihre Kampfaktivitäten einzustellen.50 Kurz zuvor war bereits Pasteur Bizimungu, ein Hutu aus dem für seine fanatische Hutu-Ideologie berüchtigten Norden, der sich der Tutsi-dominierten FPR angeschlossen hatte, zum Staatspräsidenten des neuen, post-genozidalen Ruanda bestimmt worden. Und Faustin Twagiramungu, ein Hutu aus dem Süden, der auch in Opposition zum alten Regime gestanden hatte, sollte Premierminister werden. Das Amt des Vizepräsidenten und zugleich auch die Positionen des Verteidigungsministers und Generalstabschefs waren Paul Kagame zugedacht worden, dem Chef der FPR und Sieger des Krieges.51 Was in dem Friedensvertrag von Arusha im August 1993, also noch Monate vor dem Völkermord, vereinbart worden war, die Machtteilung zwischen Hutu und Tutsi in einer Übergangsregierung,52 war damit bekräftigt worden. Die Zeichen standen, soweit erkennbar, auf Kooperation und Verständigung. Es sollte ein Staat geschaffen werden, gegründet auf den Prinzipien der Gewaltenteilung und des Rechts und unter Beteiligung aller Kräfte und politischer Parteien, die nicht in Völkermord und Massakern verwickelt waren. Aufbau, Versöhnung und Einheit waren die Ziele, denen sich alle verpflichtet fühlten. Eine der ersten Maßnahmen der neuen Regierung war es darum, in den Ausweisdokumenten den Hinweis auf die ethnische Zugehörigkeit, während des Völkermords von buchstäblich lebensentscheidender Bedeutung, zu streichen.53
Der Arusha-Vertrag hatte auch von der Einsetzung einer internationalen Kommission gesprochen, die die während des Krieges begangenen Menschenrechtsverletzungen untersuchen sollte.54 Jetzt, nach dem Völkermord, spricht niemand mehr von einzelnen Akten der Menschenrechtsverletzung. Jetzt handelt es sich um hunderttausendfachen Mord, um Folter und andere Grausamkeiten, die die menschliche Fantasie sich auszudenken fähig ist. Und es geht darum, ein weiteres Verharren des Landes in der Apokalypse zu verhindern. »Wir mussten versuchen, dass die Überlebenden, die Opfer mit den Tätern zusammenleben konnten, und das in einem großen Durcheinander, denn wir wussten nicht, wer wofür verantwortlich war – wer ist Opfer, wer nicht und warum, wer ist verantwortlich für das, was geschehen ist und warum – und entdeckten dabei, dass wir nirgendwo anknüpfen konnten. Wir mussten den Anfangspunkt selbst bestimmen.«55
3,2 Millionen Menschen, fast die Hälfte der Einwohner Ruandas, waren vor der vorrückenden APR in die Nachbarstaaten Burundi, Tansania und Zaire geflüchtet, oft nach Gemeinden (communes) geordnet56 und unter Mitnahme öffentlicher Gelder, administrativer Unterlagen und Waffen. Hinter sich gelassen hatten sie ein Land im Schockzustand, ein Land, in dem bapfuye bahagazi, vom Tod gezeichnete Menschen, umherirrten und Ansammlungen von Geiern und Hunden auf die unzähligen Leichenfelder früherer Massaker hinwiesen.57 Der Staat Ruanda und mit ihm ein Großteil seiner Bewohner waren verschwunden. Ihn wieder herzustellen und bescheiden funktionsfähig zu halten, würde einen Einsatz von Menschen, Kapital und Material erfordern, der 1994 nicht zur Verfügung stand. Um ein nahe liegendes Beispiel zu wählen: Von den vormals 758 Richtern gab es im November 1994 noch 244, von den 70 Staatsanwälten noch 12 und von den 631 Mitarbeitern in Justizbehörden noch 137.58 Richter und Staatsanwälte waren überdies in der belgischen Tradition des kontinentaleuropäischen Rechtssystems ausgebildet und sprachen Französisch, was auf den Argwohn der, zumindest auf Leitungsebene, nahezu ausschließlich anglophonen FPR stieß. Diese hatte schon während des Völkermords gefordert, und die Forderung durch etliche Festnahmen untermauert, dass die für den Völkermord Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden müssten – »to end impunity«, wie der Slogan in Anspielung auf die Straflosigkeit ethnisch motivierter Straftaten in der ruandischen Vergangenheit lautete – und waren darin von allen Parteien der Übergangsregierung und des Übergangsparlaments unterstützt worden.59 Alle, Hutu wie Tutsi, wollten keinen Zweifel daran lassen, dass das künftige Ruanda nicht mit der Hypothek ungesühnter Verbrechen belastet werden dürfe.
Mit diesem Vorsatz standen beide Bevölkerungsgruppen nicht allein. Die internationale Gemeinschaft, über deren Versagen zur Verhütung und Bekämpfung des Völkermords schon viel geschrieben worden ist,60 richtete im November 1994 einen Strafgerichtshof ein, dessen Aufgabe es war, Völkermordverbrechen und »systematische, weitverbreitete und flagrante Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht«, die zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 1994 begangen worden waren bzw. noch begangen werden sollten, zu ahnden.61 Nach dem Willen des UN-Sicherheitsrats sollte sich der Gerichtshof, dem Beispiel des im Mai 1993 geschaffenen Jugoslawien-Tribunals folgend (mit dem es im Übrigen organisatorisch eng verzahnt war), auf ehemals hochrangige, einflussreiche Täter konzentrieren, um durch deren Bestrafung »zur nationalen Aussöhnung wie auch zur Wiederherstellung und Wahrung des Friedens« beizutragen.62
Dass Ruanda, das 1994 nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats war, als einziges Mitglied dieses Gremiums gegen die Einsetzung des Ruanda-Tribunals stimmte, mutet vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung und etlicher inhaltsgleicher Erklärungen ruandischer Politiker in den Monaten zuvor befremdlich an. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Die Gegenstimme markierte jedenfalls einen deutlichen Missklang, der sich bis heute, mal mehr, mal weniger klar vernehmbar, durch das Verhältnis zwischen dem »Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda« und Ruanda selbst zieht. Das Tribunal sei nicht effizient genug, blind für die ruandische Geschichte und Kultur und unsensibel gegenüber den Überlebenden, lauten die Vorwürfe. Auch darauf wird noch zurückzukommen sein.
Ende August 1996 wurde vom ruandischen Übergangsparlament das erste Gesetz verabschiedet, das eine strafrechtliche Ahndung von Völkermordverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermöglichen sollte.63 In den gut zwei Jahren, die seit dem Völkermord vergangen waren, war mit Hochdruck an dem Wiederaufbau der Justiz gearbeitet, waren Staatsanwälte und Richter ausgebildet worden und hatten in Kigali Konferenzen stattgefunden, die internationales Wissen über den Umgang mit Massenverbrechen vermitteln wollten.64 Das Gesetz wies die Verfahren noch zu bildenden Sonderkammern bei den ordentlichen Gerichten und den Militärgerichten zu (Artikel 19). Die Tatverdächtigen wurden je nach Tatschwere in vier Kategorien eingeteilt, vom Organisator des Völkermords und Massenmörder über den einfachen Mörder und Schläger bis hinunter zum Plünderer (Artikel 2). Die Höchststrafe konnte auf Tod lauten, doch bestand generell die Möglichkeit, das Strafmaß durch ein frühes Geständnis erheblich zu mildern (Artikel 15 und 16), im günstigsten Fall sollte z. B. ein Mörder nur eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren erhalten. »Durch ein System, das geringere Strafen für geständige Verdächtige vorsah, sollte dazu beigetragen werden, die Wahrheit über das, was zwischen 1990 und 1994 geschehen war, herauszufinden«, meinte dazu Martin Ngoga, von Juli 2006 bis Oktober 2013 Generalstaatsanwalt von Ruanda, und im Hinblick auf die Kategorisierung der Täter fügte er hinzu »sie berücksichtigte den Umstand, dass zwar die Beteiligung der Bevölkerung am Völkermord sehr hoch gewesen war, doch nur eine kleine Zahl von Führern den Völkermord geplant und dazu aufgerufen hatte. Die Kategorisierung der Verdächtigen entsprach dem Grad ihrer Verantwortlichkeit für begangene Verbrechen.«65
Unumstritten war der justizielle Weg nicht, trotz regelmäßiger Bekenntnisse zur einheits- und friedensbildenden Kraft der Justiz. Besonders die Strafmilderungen wurden von Überlebenden und Abgeordneten