Fragte man Zoulfaty M. nach den Gründen für diese eigenartige Atmosphäre in Gishamvu, die auch bei den nächsten wöchentlichen Gacaca-Verhandlungen festzustellen war, antwortete sie ohne zu zögern, dass in Gishamvu wohl Täter, Mitläufer und Gaffer über sich selbst zu Gericht gesessen hätten. Überlebende des Völkermords dürften nicht dabei gewesen sein, denn dann wären die Verhandlungen anders verlaufen. Zoulfaty M. ist Tutsi, knapp über 30 Jahre alt und Gacaca-Richterin in der Gemeinde Huye in der Nähe von Butare. Den Völkermord hat sie in Kigali überlebt, in einem Kellerraum, zusammen mit ihrem Mann, einem Hutu, der der Opposition zugerechnet wurde und darum in Lebensgefahr schwebte, und drei Geschwistern. Der Kellerraum gehörte einer befreundeten Hutu-Familie, die während der fast zwei Monate, die die fünf Personen in dem engen Versteck ausharren mussten, für sie sorgte. Mehrfach seien sie nur knapp der Entdeckung und damit dem sicheren Tod entronnen. Aber sie hätten es geschafft, im Gegensatz zu den Eltern und vielen Verwandten, die getötet worden seien.
Zoulfaty M. weint häufig, als sie mir von der schwierigen Zeit des Überlebens erzählt und von den Toten, die sie auf dem Weg zurück in ihr Heimatdorf gesehen hat. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gacaca funktioniert«, sagt sie beinahe trotzig, und: »Die Wunden sind viel zu tief, die Erinnerung noch viel zu frisch. Der Hass der Häftlinge in den Gefängnissen ist mit den Händen zu greifen, der Schmerz der Überlebenden endlos. Wie soll da eine Versöhnung zustande kommen? Ich weiß, dass viele Opfer die Strafen, die Gacaca-Gerichte verhängen können, als zu gering empfinden. Sie fühlen sich noch einmal erniedrigt, zumal es ihnen auch wirtschaftlich schlecht geht. Sie haben Hunger und leiden und es gibt keine Aussicht auf Besserung.«79
Mit dieser Meinung steht Zoulfaty M. nicht allein. Viele Überlebende denken wie sie, scheuen sich aber, ihre Meinung zu sagen, erst recht gegenüber einem Fremden. Niemand möchte sich gegen das große staatlich betriebene Versöhnungsprojekt stellen, für das Gacaca der offizielle Schlüssel ist. Eine Ausnahme ist hier nur die Opferorganisation Ibuka, die regelmäßig eine stärkere Berücksichtigung der Belange Überlebender fordert. Ihnen müsse die Hauptsorge der Politik gelten, nicht den vielen Tätern und deren eventueller Geständnisbereitschaft.
Durchdringen konnte sie mit dieser Forderung bislang offensichtlich nicht, ebenso wenig wie mit ihrem Verlangen, die Verbrechen des Jahres 1994 und davor allein auf die eigentlichen Völkermordverbrechen im Sinne der Völkermordkonvention zu beschränken und daher in den Gesetzestexten zur Einsetzung der Sonderkammern und Reaktivierung der Gacaca-Justiz nur von itsembabwoko zu sprechen (ethnische Säuberung, Völkermord) und nicht auch von itsembatsemba (Massaker). Itsembabwoko sollte sich ausschließlich auf den Völkermord, das heißt auf die an den Tutsi begangenen Verbrechen beziehen, während itsembatsemba auch politisch motivierte Massaker, das heißt die Massenmorde an den der Opposition zugerechneten Hutu umfasste.80 Gewählt wurde schließlich der Begriff itsembabwoko n’itsembatsemba, also eine Verbindung von beiden Verbrechensmodalitäten, um das gesamte verbrecherische Geschehen mit seinen unterschiedlichen Opfergruppen abbilden zu können.
»Diese Entscheidung war genau richtig«, versichert mir Odette Nyiramilimo in einem Gespräch wenige Tage später.81 Einer größeren Öffentlichkeit war sie durch das Gourevitch-Buch über den Völkermord in Ruanda bekannt geworden, in dem sie dem Autor über die Umstände der ihr und ihrer Familie zugedachten Vernichtung berichtet hatte. Jetzt ist sie, eine ausgebildete Ärztin, Staatsministerin für soziale Angelegenheiten und sitzt mir in ihrem Büro gegenüber. »Ein Land kann nicht auf offenen Wunden aufgebaut werden«, fährt sie fort, »das ganze Unrecht muss zur Sprache kommen. Und natürlich muss dabei ein Unterschied gemacht werden zwischen den an Tutsi und Hutu begangenen Verbrechen. Tutsi wurden Opfer eines Völkermords, niemand sollte überleben. Einen Völkermord an den Hutu hat es jedoch nicht gegeben. Getötet wurden Hutu, die als Oppositionelle galten, nicht ganze Familien. Das darf nicht vergessen werden.«
Sie greift zu dem Buch von Alison Des Forges über den Völkermord, das im Regal steht, legt es zwischen uns auf den Tisch und weist anklagend darauf: »Hier, vieles von dem, was darin steht, ist richtig. Aber Alison Des Forges macht alles kaputt, wenn sie am Ende der Befreiungsarmee FPR82 vorwirft, systematisch Verbrechen an Hutu begangen zu haben. Das ist falsch. Und ich sage das mit der gleichen Überzeugung, mit der ich sage, dass nicht alle Hutu Völkermordtäter gewesen sind. Ich habe mal gesagt, dass 90 Prozent der Überlebenden nur überlebt haben, weil sie von Hutu gerettet worden sind. Dafür bin ich heftig kritisiert worden. Gut, dann waren es eben 80 Prozent.« Odette Nyiramilimo hält kurz inne, schaut mich an und bemerkt dann: »Wissen Sie, das ist der Grund, warum das friedliche Zusammenleben von Hutu und Tutsi in unserer Gesellschaft wieder möglich ist. Meine Kinder haben mich kürzlich gefragt, ob Tutsi wieder Hutu heiraten könnten. ›Natürlich‹, habe ich geantwortet, ›warum denn nicht? Wir leben doch wieder zusammen.‹« Mein Gesichtsausdruck scheint Überraschung oder Erstaunen zu zeigen, denn mit Nachdruck fährt sie fort: »Doch, doch, wir haben gemeinsam das Böse erfahren und jetzt müssen wir es gemeinsam überwinden. Es gibt keine Alternative dazu.« Dann, nach einer Pause: »Gacaca wird uns helfen, wieder zueinander zu finden, und ich hoffe, auch das Ausland hilft uns. Es hat die Pflicht, uns zu helfen, weil es den Völkermord nicht verhindert hat.«
Unter ruandischen Politikern, Juristen und Journalisten scheint die Forderung weit verbreitet, dass die Welt, die 1994 beim Völkermord tatenlos zugesehen habe, moralisch und vielleicht auch rechtlich verpflichtet sei, Ruanda bei seinen Versuchen zu unterstützen, die Folgen des Völkermords zu überwinden. Kaum ein Gespräch über den Völkermord – und ein solches Gespräch 2002, acht Jahre danach, nicht zu führen, war letztlich unmöglich –, in dem nicht an die Verantwortung des Auslands für den friedlichen Wiederaufbau Ruandas appelliert wird. »Die Deutschen kennen sich doch aus mit Versöhnung«, stellt Odette Nyiramilimo noch am Ende unseres Gesprächs fest, und in der Tat neigen diejenigen unter meinen Gesprächspartnern, die sich in der Geschichte ihres ehemaligen Kolonialherren auskennen – Ruanda war von 1898 bis 1916 deutsche Kolonie – dazu, Deutschen pauschal eine gewisse Expertise im Umgang mit Völkermord zu unterstellen. »Es wäre gut, wenn sich Deutschland stärker in den ruandischen Versöhnungsprozess einbringen könnte«, wünscht sich auch Célestin G., ein promovierter Sozialwissenschaftler, der längere Zeit in Deutschland gelebt und den Völkermord in einem Flüchtlingslager nahe der burundischen Grenze überlebt hat. Und er fügt hinzu: »Der Versöhnungsprozess, wenn man ihn denn so nennen will, wird schwierig werden. Gacaca ist zwar Teil unserer Tradition und schlechter als in Arusha kann es nicht laufen, aber die Probleme sind für den, der sie sehen will, riesengroß. Die Wahrheit ist selten so eindeutig, wie sie zunächst scheint. Wie soll die Zerrissenheit unserer Gesellschaft überwunden werden? Wie soll die Gewalt, der die Menschen ausgesetzt waren, aus den Köpfen verschwinden?«83
2.1 Zwischen Verheißung und Zumutung – Aspekte einer widersprüchlichen justiziellen Herausforderung
Ende 2002 hätte es in Ruanda wohl nur sehr wenige gegeben, die vom Internationalen Strafgerichtshof in Arusha eine effektive Hilfe für die innere Entwicklung des Landes erwartet hätten. Die meisten hätten ohne zu zögern dem abfälligen Pauschalurteil von Célestin G. zugestimmt. Dass die offizielle Politik des Landes dem Gerichtshof mit unverhohlener Ablehnung begegnete, hatten schon der Besuch im Gefängnis von Nyankenke und der dort vorgeführte Film gezeigt. Das vergleichsweise komfortable Leben der Angeklagten im Gefängnis des Gerichtshofs und dessen Desinteresse für die Opfer der Verbrechen, die er ahnden soll – beides mehrfach plakativ herausgestellt –, legitimierten im Nachhinein, so die Botschaft des Films, die ruandische Gegenstimme bei der Entscheidung des Sicherheitsrats über die Einsetzung des Gerichts.
»Arusha«, wie der Internationale Gerichtshof in Ruanda oft in verächtlicher Kürze genannt wurde, war keine Einrichtung, an die sich Hoffnungen knüpften. Sogar zu behaupten, dass der Gerichtshof schon in den ersten Jahren seines Bestehens von den Ruandern, ob Hutu oder Tutsi, nicht nur als Enttäuschung, sondern als Zumutung empfunden wurde und die politische Führung in ihm entweder eine souveränitätsfeindliche Bevormundung oder eine arrogante Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ruandas sah, wäre sicherlich keine Übertreibung.84 Als das Gegenstück zum Gericht wurde Gacaca präsentiert, die ruandische, der Tradition verhaftete