Was vorher bildlich transportiert worden war – man denke an die Darstellung der unerbittlichen Dynamik von Kriegsgewalt in den Radierungen Jacques Callots oder der sadistischen Grausamkeiten einer entfesselten Soldateska in den Zeichnungen Francisco de Goyas –14 hat Russell in eine sprachliche Botschaft gekleidet, die, wahrheitsgemäß und um den eigenen moralischen Standpunkt besorgt, ein möglichst großes Lesepublikum erreichen wollte. Seitdem hat es eine zunehmend engere Verbindung zwischen verbalen und visuellen Formen der Berichterstattung über entferntes Geschehen gegeben, das als eklatant normwidrig empfunden wurde. Während des Ersten Weltkriegs noch durch Text und Foto, während des Zweiten Weltkriegs schon durch Film und kommentierenden Text, in den folgenden zwischen- und binnenstaatlichen Kriegen durch einen technisch immer ausgefeilteren medialen Mix – Rechtsverstöße wurden mitgeteilt beziehungsweise angeprangert (von der jeweils anderen Kriegspartei), Bewertungen wurden nahe gelegt beziehungsweise vorgegeben.15 Inzwischen scheint es so zu sein, dass die bloße Textmitteilung entsprechende bildhafte Assoziationen freisetzt, wie umgekehrt auch rein bildliche Darstellungen einen entsprechend eindeutigen Text zu erzählen vermögen. Fast könnte man sagen, der zeitgenössische Mensch erkennt ein Verbrechen, wenn er es sieht oder wenn er von ihm hört. Vermutlich kann auch unterstellt werden, dass er um die subjektive Beeinflussbarkeit der Informationsübermittlung weiß (von der technischen ganz zu schweigen). Doch selbst wenn Propagandazwecke verfolgt oder nach der Devise »If it bleeds, it leads« das Verlangen nach Schauergeschichten befriedigt werden, schon die Veröffentlichung derartiger Informationen sind, abgesehen von den seltenen Fällen ihrer puren Erfindung, Referenzzeichen stattgefundener Gewalt, zumindest aber Spuren einer tödlichen Realität.16 Das trifft im Übrigen auch auf die Fälle zu, in denen zu oberflächlich berichtet wird, weil der Beobachtungspunkt zu weit vom Geschehen entfernt liegt. Den afrikanischen Kontinent von hauptsächlich drei Standorten aus (Kairo, Nairobi, Johannesburg respektive Kapstadt) journalistisch zu betreuen, birgt leicht die Gefahr in sich, reale Handlungsabläufe, die sich in großer Entfernung von dort an entlegenen Orten abspielen, nicht richtig zu erfassen.17 Aus der Welt ist das tatsächliche Geschehen aber dennoch nicht, es wartet gewissermaßen nur auf seine vollständige Erfassung und Bekanntgabe.
Die Reporterin Janine di Giovanni, die in den vergangenen zwanzig Jahren aus vielen Krisengebieten berichtet hat, bemerkte vor einiger Zeit zu ihrem Berufsverständnis: »Ich glaubte damals (und tue es gelegentlich noch heute), dass das, was man schreibt oder fotografiert oder filmt, manchmal einen Menschen erreicht und etwas bewirkt.«18 Damals, als sie noch uneingeschränkt an ihre Arbeit glaubte, das war 1993, das Jahr, in dem der Bosnienkrieg noch grausamer wurde und sie darüber berichtete. Seitdem ist der eigene Blick auf die Arbeit nüchterner geworden, ohne dass sich jedoch Resignation breit gemacht hätte. Die Hoffnung, gehört zu werden, eine Reaktion hervorzurufen, besteht noch, wenn auch nicht mehr fortwährend. Und so gesehen bewegt sie sich auf der Höhe der Möglichkeit, etwas zu bewirken, die eben auch keine laufend existierende Gewissheit ist. Echte Empfindung, »wirkliche Leidenschaft, die zu Taten aufrüttelt«, stellen sich nicht von allein ein. Sie bedürfen eines gelungenen Anstoßes.19
Damit komme ich zu einer weiteren Antwort auf die oben gestellte Frage nach dem legitimen Umgang mit fernen Verbrechen. Die Nachricht von ihnen sollte auf eine Weise in die Welt gesetzt werden, die über das Erkennen der Nachricht hinaus sinnvolle Konsequenzen möglich macht. »Making Sense of Mass Atrocity« lautet der Titel eines Buches, das sich mit solchen Konsequenzen beschäftigt.20 Angesichts des Leids der Opfer mag das beinahe brutal-nüchtern und instrumentell klingen, nichtsdestoweniger trifft es den Kern dessen, worum es geht. Wiedergutmachen, wie es der einschlägige englische Begriff »reparation« nahe legt,21 lässt sich das erlittene Leid nicht mehr. Menschen sind getötet oder verletzt worden, das ist Teil der Realität und kann nicht ungeschehen gemacht werden. Allerdings hätte es nicht geschehen dürfen, und das als Handlungsaufforderung zu registrieren ist die Aufgabe der Institutionen, die stellvertretend für alle diejenigen handeln, die ein Verbrechen zu erkennen in der Lage sind. Moralisch gebotene Reaktionen sind hier viele denkbar, angefangen von unmissverständlicher Kritik in den Medien über politischen Druck seitens einzelner Staaten bis hin zu kollektiven Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft. Und natürlich die Reaktion, die gewöhnlich mit Verbrechen verknüpft ist und ihnen durch Verfahren und Strafzumessung einen konkreten Unwertgehalt zuweist: die der Justiz. Deren Zuständigkeitsbereich hat sich parallel zum Verständnis von Verbrechen, die auch Völkerrechtsverbrechen sind, von der nationalen zur internationalen Gerichtsbarkeit erweitert. Nach allgemeiner Ansicht gilt heute: »Das Opfer einer schweren Verletzung internationaler menschenrechtlicher Bestimmungen oder eines gravierenden Verstoßes gegen das internationale humanitäre Recht soll ungehinderten Zugang zu einem wirksamen justiziellen Beistand nach dem Völkerrecht haben. Darüber hinaus soll das Opfer Zugang zur Unterstützung seitens der Verwaltung und anderer Körperschaften haben sowie zu Mechanismen, Modalitäten und Verfahren, die das nationale Recht bereithält. Völkerrechtliche Verpflichtungen, die den Rechtsweg und faire und unabhängige Verfahren gewährleisten, sollen Teil der nationalen Gesetze sein.«22
Gegenüber anderen Formen der Reaktion hat die justizielle zudem einen besonderen Vorteil: Sie ist potenziell die Reaktionsform mit der größten Wirkung. Kritik kann von anderen Nachrichten überlagert werden und verpuffen, politischer Druck auf eine unklare Adressatensituation stoßen und ins Leere gehen, Sanktionen können die Falschen treffen und die Lage verschlimmern. Ein Justizverfahren dagegen ist, vorausgesetzt, es wird ernsthaft betrieben,23 dem Ideal der Gerechtigkeit verpflichtet. Ein Sachverhalt muss aufgeklärt, historische Hintergründe müssen ausgeleuchtet werden. Die Beweiswürdigung erfolgt auf einer möglichst umfassenden Basis von Informationen, die zulasten, aber auch zugunsten des Angeklagten sprechen können. All dies geschieht nicht in einem abgeschlossenen Raum, sondern vor den Augen der Öffentlichkeit, die sich so ein Bild von den zur Verhandlung stehenden Verbrechen und dessen Folgen machen kann. Dass dabei auch, unterschiedlichen Vorverständnissen folgend, selektiv wahrgenommen wird, tut dem Umstand keinen Abbruch, dass beides über das Strafverfahren einen Platz in der öffentlichen Debatte besetzt. Die Öffentlichkeit wird Zeugin einer Grenzziehung zwischen Verhalten, die noch politisch oder bereits kriminell sind, zwischen individueller Schuld und kollektiver Verantwortung und, immer wieder und in immer neuen Facetten, einer Misere, in die staatlich entfesselte Gewalt, ausgeübt von willigen Helfershelfern, Menschen ungeachtet ihres Alters, ihres Geschlechts oder ihrer sozialen Stellung, jäh zu stürzen vermag.24 Aus vereinzelten Informationen über ein Verbrechen wird eine Nachricht, aus der Nachricht wird ein Verfahren und aus dem Verfahren letztendlich die öffentliche Feststellung, inwieweit es eine Rechtsverletzung gegeben hat und wer dafür verantwortlich ist. Das unterscheidet das richterliche Urteil von anderen Formen des Umgangs mit Verbrechen. Der Normbruch, wie er sich in der Begehung des Verbrechens manifestiert, wird nicht nur benannt, er wird darüber hinaus auch sanktioniert, wodurch die Geltung der Norm unterstrichen und das Normbewusstsein der Menschen gestärkt wird. Anders gewendet drückt die Strafe den Willen der Menschen in der internationalen Gemeinschaft aus, das Recht gegen das Unrecht zu verteidigen. Zugleich schafft sie die Voraussetzung für die Entstehung und Festigung eines Normvertrauens, das mit zunehmender Intensität auch eine stärkere präventive Wirkung entfaltet.25 Die Zuversicht, nicht das Opfer von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen zu werden, ist aufs Engste verbunden mit der Botschaft an Machthaber und ihre Funktionäre, dass sie sich mit einer sie beunruhigenden Wahrscheinlichkeit für vergangene Taten werden verantworten müssen, selbst wenn sie zwischenzeitlich in der internationalen Politik angekommen zu sein scheinen.26
Dass die Justiz nach dem Völkermord in Ruanda eine wichtige Rolle spielen würde, lag auf der Hand. Wie anders sollte die »Kultur der Straflosigkeit«, auf die von vielen Seiten regelmäßig anklagend verwiesen wurde, weil sie das Land in den