Fassen wir also zusammen: Nur zwölf der insgesamt 42 Jahre Regierungszeit des NabûkudurrI –-uṣur II. sind bisher durch zeitgenössische historische Primärquellen und keilschriftliche chronologische Texte belegt. Dennoch zählt Nabû-kudurrī-uṣur II. ohne Zweifel zu den großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte. Die Wiederentdeckung der altorientalischen Kulturen in der ersten Hälfte des 19. Jhs. durch Ausgrabungen im alten Zweistromland und die mit den Inschriftenfunden einsetzende Entzifferung der babylonischen Keilschrift haben indes kaum etwas dazu beitragen können. Das hohe Maß an Erinnerungwürdigkeit ist zum einen vielmehr den (v.a. griechischen) Autoren der klassischen Antike mit ihren ins Fabulöse gehenden Geschichten über die erstaunlichen Bauten in Babylon geschuldet. Allerdings verband man schon recht bald die weltwunderwürdigen architektonischen Leistungen, derer sich der Herrscher in seinen eigenen Inschriften ausgiebig rühmt, mit sagenumwobenen Gestalten, wie etwa Semiramis als Schöpferin der Hängenden Gärten. Zum anderen sollte sich rezeptionsgeschichtlich jedoch die Zerstörung Jerusalems und die damit einhergehende Massendeportation der Einwohner Judas nach Babylonien, über die Nabû-kudurrI– -uṣur II. selbst der Nachwelt nicht ein einziges Wort hinterließ, als wesentlich wirksamer erweisen.
Abb. 2: Rekonstruktionsskizze des Tempelbezirks von Babylon.
Abb. 3: Drache aus glasierten Ziegeln am Ištar-Tor.
Nebukadnezar: Die biblische Darstellung
Die im Deutschen geläufige Aussprache »Nebukadnezar« geht auf den Sprachgebrauch im Alten Testament zurück, wo der Name des Herrschers zumeist Nebukadnaessar geschrieben wird. In den Büchern Jeremia und Ezechiel begegnet dem Leser auch die korrektere Form Nebukadrae‘ssar. Diese Schreibweisen gehen freilich auf die Arbeit der Masoreten zurück, die die Aussprache des ursprünglich ohne Vokalzeichen geschriebenen Textes verbindlich festlegten, so dass die einheitliche Namensform der griechischen Übersetzung Nabuchodonosor wohl die ältere hebräische Aussprache spiegelt. Es ist nicht ganz klar, ob die Festlegung der Aussprache durch die Masoreten einen abwertenden Zweck verfolgt. So ist u. a. erwogen worden, dass die masoretisch-hebräische Aussprache an ein Wortspiel »Nabû beschütze das Maultier« erinnern könne. Doch dies ist alles andere als sicher.
Nebukadnezar ist mit 119 Erwähnungen in der alttestamentlichen Literatur derjenige Fremdherrscher, der mit Abstand am häufigsten erwähnt wird. Der Grund liegt auf der Hand: Er ist dafür verantwortlich, dass dem Reich Juda sein einstweiliges Ende beschieden, dass die Stadt Jerusalem in Trümmer gelegt und dass der Tempel gebrandschatzt wurde. Er ist dafür verantwortlich, dass, sei es durch Flucht oder Deportation, eine namhafte judäische Diaspora nach Ägypten und Babylonien kam. Diese war jedoch literarisch sehr produktiv: Sie zeichnet sich für zahlreiche Schriften des Alten Testaments, die griechische Übersetzung der fünf Bücher Mose und der anderen alttestamentlichen Schriften sowie möglicherweise auch für die Entstehung des jüdischen Synagogengottesdienstes verantwortlich. Weiterhin prägten diese in Babylonien und Ägypten ansässigen Juden in unterschiedlichen Zentren der Gelehrsamkeit die jüdische Theologie und Kultur bis zumindest ins Mittelalter hinein. Die Figur des Nebukadnezar markiert damit einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte Israels: Erst seine Maßnahmen gegen Juda, Jerusalem und den Tempel haben direkt und indirekt Prozesse in Gang gebracht, die für die Entstehung des Judentums entscheidendes Gewicht besitzen. Im Alten Testament selbst wird dies zum Teil bereits so gesehen: Neben Notizen wie 2. Könige 25,8, wo die Zerstörung Jerusalems geschildert wird, liegen aus der früheren Zeit Worte von Propheten vor, die die Ereignisse um den babylonischen Herrscher theologisch reflektieren. So wird Nebukadnezar im Jeremiabuch zwar als Weltherrscher bezeichnet, dem sogar die Tiere dienstbar sind (Jeremia 27,6), doch diese Weltherrschaft verdankte er letztlich Gott, der den König gleichzeitig als seinen »Knecht« bezeichnet (Jeremia 25,9; 27,6). So führt Nebukadnezar nur das aus, was Gott sowieso zu tun im Sinn hatte. Auch der wesentlich später wirkende jüdische Historiker Flavius Josephus sieht Nebukadnezar als tatkräftigen Mann.
Gewissermaßen wird so aus der Not eine Tugend gemacht: Der Religion und Kultur Israels drohte nach der Zerstörung des Tempels der Untergang, und die einzige sinnvolle Strategie zum Überleben war es, Gott als denjenigen zu sehen, der nicht nur das eigene Schicksal, sondern auch das der Fremden und Feinde in den Händen hält. Hier wird der erste Schritt zum biblischen Monotheismus gegangen, der auch die islamische und die christliche Religion und Kultur bis heute prägt.
Diese Sichtweise ist auch im Buch Daniel zu beobachten, auf das nun etwas näher eingegangen werden soll. Das Danielbuch setzt ein mit der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar und schildert in seinem Fortgang das Geschick des deportierten Judäers Daniel und seiner Freunde am Hof des Großkönigs. Hier entwickelt sich Daniel dank göttlicher Fügungen zum Günstling Nebukadnezars, denn das Wissen des Judäers übersteigt die Weisheit der babylonischen Experten bei weitem. Auf eine ernste Probe wird dieses Wissen in Daniel 2 gestellt. Nebukadnezar hat einen Traum, der ihn beunruhigt, der aber von keinem seiner Experten gedeutet werden kann. Der Clou daran ist, dass er niemandem diesen Traum erzählt. Allein Daniel ist nun im Stande, dem König dessen Traum und seine Deutung mitzuteilen und so eine drohende Todesstrafe sowohl von den babylonischen Experten als auch von sich und seinen judäischen Genossen abzuwenden. Er beschreibt dem König dessen Traum von dem Koloss, der auf tönernen Füßen steht, und liefert gleich die Deutung mit: Die unterschiedlichen Materialien, aus denen der Koloss besteht, bezeichnen eine Folge von Weltreichen, die schließlich von einem göttlichen Reich abgelöst werden. Nebukadnezar erkennt daraufhin, dass diese Deutung göttlichen Ursprungs ist und wirft sich nun selbst vor Daniel nieder. Impliziert ist dabei natürlich, dass dieser Ruhm dem Gott Israels zukommt.
Als wäre die Traumgeschichte nicht erzählt worden, fährt das dritte Kapitel des Buches fort: Nebukadnezar lässt ein großes goldenes Standbild anfertigen, dessen Maße zwar genannt werden, dessen Gestalt aber unklar bleibt. Jeder Bewohner des Reiches muss nun, wie ein Edikt verkündet, dieses Bild anbeten, und es ist von vornherein klar, dass dieser Erlass dem biblischen Bilderverbot zuwiderläuft. Drei Judäer werden nun bezichtigt, die Anbetung des Bildes zu verweigern. Es fällt auf, dass Daniel in diesem Kapitel gar nicht in den Blick genommen wird. Die drei Verweigerer werden in einen angeheizten überdimensionalen Ofen geworfen und überleben dies auf wundersame Weise. Wie in Daniel 2 endet der Vorgang damit, dass sich Nebukadnezar vor dem Gott Israels demütigt und nun sogar bei harter Strafe verbietet, über den Gott der Judäer verächtlich zu sprechen.
Daniel 4, teilweise als Ich-Bericht des Nebukadnezar stilisiert, zeigt Daniel wiederum als den obersten Zeichendeuter des babylonischen Reiches: Nebukadnezar träumt erneut und allein Daniel kann diesen Traum deuten. Hier bezeichnet ein abgeschlagener Baum den König selbst, der für eine Zeitlang dem Wahnsinn verfällt, bis er dann quasi als Konvertit Gott, den Höchsten, lobt. Auch diese Episode hat – außer der Annahme, dass der historische Nebukadnezar Experten zur Traumdeutung beschäftigte – keinen geschichtlichen Anhaltspunkt; eine Periode des Wahnsinns ist aus der Regentschaft Nebukadnezars nicht bekannt. Die griechische Überlieferung der Bibel datiert übrigens den Beginn des Wahnsinns Nebukadnezars in dessen 19. Regierungsjahr, dem Jahr der Zerstörung Jerusalems. In Daniel 4 geht es insgesamt nicht um historische Tatsachen, sondern vielmehr wiederum um das Themenfeld von Hybris, Fall und Läuterung, das so zum festen Bestandteil des durch die Bibel überlieferten Bildes des babylonischen Großkönigs wird.
Die drei skizzierten Kapitel zeichnen ein Bild des arroganten orientalischen Despoten, dessen Ideen und Einfälle jederzeit das Judentum in seiner Identität, ja seinem Fortbestand beschädigen könnten. Es ist längst erkannt worden, dass die Hofgeschichten des Danielbuches nicht in