Obgleich es hierzu noch relativ wenige Forschungsresultate gibt, deuten immer mehr Fakten darauf hin, dass die Entdeckung und Nutzung der Fermentation und die Produktion alkoholischer Getränke bei diesem Wissensaustausch keine Ausnahme bilden. Die sog. Eurasische Hypothese geht von der Prämisse eines kulturwissenschaftlichen Diffusionismus auf der Grundlage von Kulturkontakten und -austausch aus. Im engeren Kontext unserer Fragestellung konzentriert sie sich auf die synchrone Entwicklung von Fermentationstechniken und -knowhow sowie überhaupt auf das damit zusammenhängende Entstehen einer »geistigen« Wein- und Alkoholkultur. Diese Hypothese ist eine Herausforderung für das seit jeher tradierte, allseits präsente Stereotyp der Entstehung der Weinkultur in Nahost und ihrer Verbreitung von dort aus über den Mittelmeerraum und Europa.
Entsprechende Entdeckungen besonders im Kaukasus und im Nahen Osten offenbaren schon seit längerem, dass die Herstellung von Traubenwein eng verstrickt ist mit dem Entstehen der frühesten Kulturen.
Die Ausgrabungen von Jiahu
Die Einzigartigkeit der noch längst nicht abgeschlossenen Ausgrabungen von Jiahu im Osten des eurasischen Kontinents besteht darin, dass sie schon jetzt in prototypischer Weise einen relativ umfassenden Einblick in die Uranfänge menschlicher Zivilisation und ihre vielfältigen Wirkfaktoren und Zusammenhänge erlauben. Außer der eingangs erwähnten Feststellung des ältesten fermentierten Getränks traten weitere Superlative zu Tage. Beeindruckend sind die außerordentlich frühen Töpfereien und die große Fülle an bereits erstaunlich kunstvoll gestalteten Keramikgefäßen. Diese dienten nicht nur zur Aufbewahrung von Lebensmitteln und zum Kochen (Dreifußkessel), sondern v.a. auch der Produktion, Lagerung und dem Konsum alkoholischer Getränke. Hierzu gehören amphorenartige, bauchige Krüge und karaffenförmige Gefäße mit engem Hals und teils auch mit Keramikstöpseln, die in späteren Epochen in nahezu identischer Gestalt erwiesenermaßen für den Alkoholkonsum genutzt wurden (Abb. 2). Sie wurden auch als Beigaben in den zahlreichen Gräbern gefunden und ähneln den Beisetzungsritualen Jahrtausende später, die den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod in der Ahnen- und Götterwelt widerspiegeln. Dass dabei magische Kulte im Mittelpunkt standen, zeigen die Funde von bisher über 30, aus Flügelknochen des rotgekrönten Mandschurenkranichs geschnitzten Flöten, den ältesten Musikinstrumenten Chinas (Abb. 3), sowie von zahlreichen Schildkrötenpanzern, die mit Kieselsteinen gefüllt und als rituelle Rasseln verwendet wurden. Der rotgekrönte Mandschurenkranich (Grus japonensis, chinesisch: dandinghe) spielt seit jeher in Kunst und Mythos Chinas und Japans eine zentrale symbolische Rolle. Diese Kranichart ist auch für den eigenartigsten und komplexesten Balztanz bekannt. Somit liegt die Vermutung nahe, dass Kraniche bereits bei den Jiahu-Siedlern als heiliges Tier verehrt wurden. Der Balztanz sowie die Musik auf den Knochenflöten dürften damit in enger Beziehung zu den Zeremonien von Schamanen gestanden haben, in deren Gräbern die Flöten gefunden wurden. Es ist anzunehmen, dass diese Instrumente von den Schamanen in Verbindung mit dem Konsum bewusstseinserweiternder Getränke und beschwörenden Tänzen eingesetzt wurden, um die Verbindung zum Jenseits herzustellen.
Abb. 2: In Jiahu gefundene Keramikgefäße (Archäologisches Institut, Henan, Zhengzhou).
Abb. 3: Die ältesten Musikinstrumente Chinas: Knochenflöten von Jiahu (Archäologisches Institut, Henan, Zhengzhou).
Zu den länger kaum beachteten Errungenschaften der Jiahu-Kultur gehören auf Schildkrötenpanzer und Knochen eingravierte Symbole, die nach heutigem weitgehendem Konsens eine Urform der chinesischen Schriftzeichen erkennen lassen. Schildkrötenpanzer und Knochen wurden 5.000 Jahre später während der Shang-Periode (16. – 11. Jh. v. Chr.) – nur wenig nördlich von Jiahu – in beträchtlichen Mengen für die Orakelbefragung und für die Aufzeichnung der ältesten chinesischen Texte verwendet. Nicht zufällig entfaltete sich ab der Shang-Zeit die komplexeste Alkoholkultur der Menschheit in Verbindung mit beispiellos aufwändigen Gemeinschafts-, Götter-, Ahnen- und Begräbniskulten. Des Weiteren verraten die Ausgrabungen von Jiahu, dass hier die Domestizierung von Hunden und Schweinen begann, wobei es bezüglich letzterer wohl der älteste Fundort der Welt ist. Überdies sind hier die ersten Ansätze der Kultivierung von Reis (Oryza sativa) nachweisbar, der allerdings eine nur sehr untergeordnete Rolle bei der Ernährung spielte und zunächst wohl in erster Linie als Stärkelieferant für die Herstellung des »Jiahu-Cocktails« diente. Schließlich belegen Reste von Behausungen und zahlreiche Funde von Stein- und Knochenwerkzeugen die ersten Anfänge von Ansiedlung und landwirtschaftlicher Arbeit, neben den nach wie vor den Alltag bestimmenden Tätigkeiten des Sammelns, der Fischerei und der Jagd. Nicht zuletzt beweist die Entdeckung karbonisierter Traubenkerne – in der Provinz Henan kommen heute noch mindestens 17 einheimische Wildreben vor –, dass Weintrauben im sozialen, rituellen und kreativen Leben der Jiahu-Siedler, ob nun als essbare Früchte oder als vergorener Saft, eine wichtige Rolle spielten. Dies erinnert direkt an vergleichbare Entwicklungen im Nahen Osten.
Die Ausgrabungsstätte liegt im zentralen Henan, mit 94 Mio. Einwohnern nicht nur die bevölkerungsreichste Provinz und eines der am dichtesten besiedelten Gebiete Chinas, sondern auch die Wiege der chinesischen Zivilisation mit einer beispiellosen Fülle archäologischer und historiographischer Zeugnisse bis zurück in die Steinzeit. Nur etwa 140 km nördlich von Jiahu fließt der Gelbe Fluss, in dessen Einzugsgebiet die meisten frühzeitlichen Siedlungen entdeckt wurden und noch immer gefunden werden. Noch einmal 160 km nördlich bei der Stadt Anyang liegt das große Grabungsareal des Herrschersitzes der späteren Shang-Dynastie (14. – 11. Jh. v. Chr.), wo die frühesten Zeugnisse zu den Anfängen der chinesischen Dynastiegeschichte entdeckt wurden. Hierzu gehören neben Tausenden von Schildkrötenpanzern und Rinderknochen mit den ältesten chinesischen Schriftzeichentexten v.a. kunstvolle Bronzegefäße, Jadeschmuck und Gräber mit reicher Ausstattung für das Weiterleben im Jenseits.
Trinkhörner, Zwillingskrüge, Keltern, Honig und Harz – Belege für den Kulturaustausch?
Ein prägnantes Beispiel für die Verbindung zwischen den Weinkulturen quer durch den eurasischen Kontinent sind die Trinkhörner, ursprünglich meist aus Rinderhörnern gefertigt, und mit fortschreitender Entwicklung als sog. Rhyta aus verschiedenen Materialien (Horn, Knochen, Holz, Elfenbein, Nashorn, Keramik, Glas, Jade, Porzellan, Bambus, Bronze, Silber, Gold etc.) und in unterschiedlichsten künstlerischen Formen herausgearbeitet. Verblüffend sind die Ähnlichkeiten und die beachtliche Verbreitung dieser meist Kult- und Libationszwecken dienenden Trink- und Ausschankgefäße. Sie finden sich vom Neolithikum bis ins Mittelalter und in die Neuzeit nahezu überall: in den weiten Regionen zwischen Nordeuropa und Südchina. Auf nahezu dem gesamten Territorium des heutigen China wurden derartige Funde gemacht. In den vorchristlichen Jahrtausenden entwickelte sich dort eine weltweit einzigartige Vielfalt und Systematik an Trink- und Libationsgefäßen zunächst aus Keramik, dann aus Bronze, die sowohl von ihrer künstlerischen Ausgestaltung als auch von der Etymologie ihrer Bezeichnungen her größtenteils auf diese Protoform des Rhytons zurückgeführt werden können (Abb. 4 und 5).