Dieser kurze Überblick über einige nichthebräische Religionsvorstellungen verdeutlicht, dass die polytheistischen semitischen Religionssysteme nicht ausdrücklich von einer bösen Natur der Welt oder der Menschheit ausgingen. Dennoch weisen die Belege aus Mesopotamien darauf hin, dass die damals dort ansässigen Semiten zu der Vorstellung neigten, dass es eine „Erbsünde“ gebe. Gleichzeitig ist es schwierig, auf die frühen sumerischen oder semitischen Kulturen die Zweiteilung in „linkshändigen“ und „rechtshändigen“ Pfad anzuwenden. Dies rührt wahrscheinlich daher, dass wir vom philosophischen Verständnis dieser Völker zu maßgeblichen Themen zu wenig wissen. Gilgamesch ragt als einzigartige, heroische Wesenheit heraus, die, besessen von Selbst-Bewusstsein, Unsterblichkeit herbeisehnt. Dies würde ihn zumindest in Teilen als eine Leitfigur des linkshändigen Pfades auszeichnen. Es ist höchst wahrscheinlich, dass die vielfältigen und ambivalenten Überlieferungen der Religionen des frühen Mesopotamiens und des Nahen Ostens, wie die alten indoeuropäischen oder die ägyptischen Traditionen die Saat für das in sich trugen, was sich später zur Dichotomie des rechtshändigen/linkshändigen Pfades entwickeln sollte. Aus der Sicht orthodoxer Lehren wie des Judentums, des Christentums und des Islam sind die Religionssysteme der Kanaaniter und Babylonier (ebenso wie das der Ägypter) grundsätzlich „sündig“ (sie mögen zwar im wesentlichem nicht dem linkshändigen Pfad zuzurechnen sein, doch waren sie, mit anderen, zumindest offen für die Werte des linkshändigen Pfades). Dieses Zulassen einer Vielzahl religiöser Facetten war an sich schon aus orthodoxer, monotheistischer Sicht Grund genug für eine Verdammung. Doch machte erst die hebräische Synthese eine solche Dichotomie möglich.
Die hebräisch-orthodoxe Synthese des rechtshändigen Pfades
Die hebräische oder israelitische Synthese der primitiven Glaubensvorstellungen semitischer Nomaden mit Elementen aus den Traditionen der Ägypter und Kanaaniter sowie der Babylonier und Iraner fand über einen längeren Zeitraum von etwa 1750 bis 500 v.u. Z. statt. Hebräische Nomaden waren in der Region um Hebron weitgehend sesshaft geworden, während die Israeliten (oder, genauer gesagt, die Aramäer) sich etwas später in der Region von Sichem ansiedelten. Diese Stämme lebten in den Randbezirken der städtisch geprägten und offenbar indigenen kanaanitischen Gesellschaft. Die Aramäer begannen vermutlich zwischen 1750 und 1250 v.u. Z., gewisse Eigentümlichkeiten der kanaanitischen Religion zu übernehmen. Um 1250 v.u. Z. kam eine dritte Welle hebräischer Siedler in diese Region. Diese setzten sich wahrscheinlich aus hebräischen Stämmen, die für einige Jahrhunderte in Ägypten ansässig gewesen waren, und womöglich auch aus Ägyptern und Angehörigen anderer nichthebräischer Völker zusammen, die äußerlich während des Exodus unter Führung eines (ehemaligen) ägyptischen Priesters, der als Moses in die Überlieferung eingegangen ist, hebraisiert wurden. Eine bedeutsame Synthese altertümlicher hebräischer, kanaanitischer und ägyptischer Weltanschauungen fand in diesem kulturellen Zusammenhang zwischen 1200 und 600 v.u. Z. statt. Das Königreich Israel wurde 587 v.u. Z. von den Babyloniern zur Gänze erobert. Von da an bis 538 v.u. Z. lebten die Israeliten innerhalb Babyloniens im Exil, in der so genannten Babylonischen Gefangenschaft. Zu dieser Zeit übernahmen sie babylonische – besonders aber auch iranische – Glaubensvorstellungen, die zum wichtigsten katalytischen Element in der Entwicklung der hebräischen oder jüdischen „Philosophie des Bösen“ wurden.
Wenn wir das hebräisch-jüdische Material (d. h. die kanonischen und die apokryphen Bibeltexte dieser Tradition) betrachten, müssen wir berücksichtigen, dass es sich bei diesen Mythen nicht um fortlaufende und zusammenhängende Erzählungen handelt, sondern um Fragmente von Mythen und Legenden, die ohne oder mit bestenfalls geringer Bemühung um textliche Folgerichtigkeit zusammengestückelt wurden. Das erste Beispiel davon finden wir in der Genesis, wo in 1 : 2 - 4 eine vollständige und schlüssige Version des Schöpfungsmythos erzählt wird und dann an späterer Stelle (Genesis 2 : 4 - 25) eine davon ziemlich abweichende, aber ebenso schlüssige und vollständige Version auftaucht. Die erstgenannte ist sicherlich die ältere Version, die andere wurde später (wahrscheinlich nach der Babylonischen Gefangenschaft) hinzugefügt. Dies ist eine typische Eigenart der hebräischen Mythologie, die jedoch angesichts populärer Mutmaßungen, es würde sich um einen in sich stimmigen und einheitlichen „offenbarten“ Text und nicht um das über Jahrhunderte hinweg unter verschiedenen geschichtlichen und kulturellen Einflüssen entstandene Werk mehrerer Autoren handeln, meist aus dem Blickfeld gerät.46
Die einzigen ursprünglichen Vorstellungen, die die antiken Hebräer, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, vom „Bösen“ gehabt haben mögen, liegen verschüttet unter den Schichten dessen, was sie aus anderen Kulturen übernommen haben. Es ist wahrscheinlich, dass die hebräischen Einwanderer aus Ägypten eine theologische und rituelle Struktur mit sich gebracht haben, die in hohem Maße vom ägyptischen Denken beeinflusst war. Man hat darüber spekuliert, dass Moses vom Gedankengut der monotheistischen Reformen des Pharaos Echnaton geprägt gewesen sei, und es ist weiteres möglich, dass die Vorstellungen der Hebräer davon, wer oder was gegen den göttlichen Plan opponiert, vom etablierten Seth-Kult während der neunzehnten Dynastie (1300 - 1200 v.u. Z.) beeinflusst gewesen sind. Der „Exodus“ der semitischen Stämme aus Ägypten ereignete sich höchstwahrscheinlich gegen Ende dieser Dynastie. Die monotheistische Reform der hebräischen Religion durch Moses führte natürlicherweise zu einem Glaubensmodell, nach dem der „Eine Gott“, den Moses „Jahwe“ nannte, von einer anderen kosmischen Kraft herausgefordert werden konnte. Vor diesen Reformen stellte der hebräische Polytheismus das „Böse“ (d. h. Krankheit und Tod) als ein Produkt der „Flickschusterei“ der kosmischen Realität dar, wie es auch die Kanaaniter taten. Im mosaischen Monotheismus (womöglich gepaart mit dem Wissen um das Prinzip, das durch Seth repräsentiert wird) wurde so der potentielle Grundstein für diesen kosmischen Gegenpol gelegt. Tatsächlich hat es jedoch Jahrhunderte gebraucht, um ein Bewusstsein für all die Konsequenzen zu entwickeln, die diesem Potential innewohnen.
Archäologisches Belegmaterial deutet darauf hin, dass die Hebräer, die mit der dritten Einwanderungswelle in die Levante gekommen sind, weit davon entfernt waren, alles und jeden im „Verheißenen Land“ zu zerstören, um es für „Gottes auserwähltes Volk“ zu säubern (Josua 1 - 18). Vielmehr ließen sich die Hebräer von dem kanaanitischen „Land, wo Milch und Honig fließen“ und dem moabitischen Gott Ba’al Peor verführen (Numeri 25). Von der Zeit des Exodus bis zur Babylonischen Gefangenschaft weist die hebräische Religion eine kontinuierliche Assimilation kanaanitischer Mythen und Kultformen auf; zugleich hat es vonseiten der so genannten Propheten wiederholt Widerstände gegen diese fortwährende Tendenz gegeben.
Der Einfluss der Kanaaniter auf die Auffassung der Hebräer vom „Bösen“ zeigt sich in der Annahme eines kosmischen Konfliktes zwischen den Kräften des Lebens (Ba’al) und denen des Todes (Mot). Das hebräische Wort für den Tod ist mot. Die Vorstellung von einer kosmischen Rebellion jüngerer Götter gegen ältere ist ebenfalls in der kanaanitischen Mythologie angelegt,47 in der Ba’al sich nicht nur in ständigem Kampf gegen den Tod (Mot) befindet, sondern auch versucht, den älteren Gott El zu stürzen. El (pl. Elohim) ist ein „Name Gottes“, der auch ins Hebräische übernommen wurde (siehe El Schaddai). Die Pluralform kann im Hebräischen verwendet werden, um die Größe von etwas anzuzeigen, ohne damit zwangsläufig einen Plural zu implizieren.
Soweit babylonische Einflüsse beteiligt sind, kamen diese mutmaßlich eher indirekt, über die kanaanitische Theologie vermittelt, als direkt von den Babyloniern zu den Hebräern.