Der Gesamtprozess der Initiation in diese Mysterien – die voraussetzten, dass der Mensch eine Mischung aus titanischer und göttlicher Natur ist, beinhaltete Läuterungen (katharmoi), gefolgt von Initiationsriten (teletai) und dem konstanten Führen eines „orphischen Lebens“. Mit diesen Methoden konnte man das titanische Element eliminieren und zu Bakkhos werden: „abgetrennt“ und in einer „göttlichen, dionysischen Verfassung“.7
Dieses Thema der „Abtrennung“ von der konventionellen gesellschaftlichen und der natürlichen kosmischen Ordnung ist eine Gemeinsamkeit mit dem linkshändigen Pfad. Eliade schlussfolgert, dass der Orphiker „in der Lage ist, sich selbst vom ‚dämonischen Element‘ freizumachen, das in jeglicher profanen Existenz sichtbar wird (Ignoranz, Fleisch, Ernährung etc.)“, und dass das letztendliche Ziel „die Absonderung des ‚Orphikers‘ von seinen Mitmenschen und schließlich die endgültige Trennung der Seele vom Kosmos“ ist.8 Dasselbe Thema wird auch in der Sethianischen Philosophie von Michael Aquino im Temple of Set hervorgehoben (siehe Kap. 10).
In den orphischen- oder Mysterientraditionen der Griechen gibt es auch einige ursprüngliche Beiträge zur Mythologie des rechtshändigen gegen den linkshändigen Pfad. Offenbar bezieht sich Platon auf mystische Traditionen, als er in seiner Politeia ausführt, dass die Toten auf zweierlei Wegen zum Gericht gelangen: die Gerechten „aufwärts zur Rechten durch den Himmel […], die Ungerechten waren dazu verdammt, den Weg abwärts zur Linken zu nehmen.“9 Dies ist keine literarische oder heuristische Erfindung des Philosophen, denn es gibt archäologische Belege in Gestalt von Grabkomplexen in Süditalien und auf Kreta, wo Gedenktafeln mit Inschriften gefunden wurden, die auf jene hinweisen, die „den Weg zur Rechten“ gehen, „zu den heiligen Feldern und dem Hain der Persephone.“10
In dieser orphischen Eschatologie scheint es so, dass die Guten und Gerechten den Pfad zur Rechten gehen und nicht wiedergeboren werden. Sie trinken vom Quellwasser der Mnemosyne (Erinnerung) und „herrschen mit den anderen Helden“. Doch die Verruchten müssen vom Quell trinken, der Lethe (Vergessen) genannt wird, so dass sie all ihre Erinnerungen an die Anderswelt verlieren, bevor sie sich in dieser Welt „zur Strafe“ reinkarnieren.11
Mit anderen Worten, es ging bei der orphischen Initiation für den Initianden darum, zu einem Gott – oder gottgleich – zu werden. In der Unterwelt wird dem orphischen Initianden gesagt: „O Glücklicher, o Glückseliger! Du bist ein Gott geworden, Mensch bist du gewesen.“12
Die Ansichten darüber, wie eine erstrebenswerte Existenz nach dem Tode aussehen sollte, veränderten sich über die Zeit hinweg. In der frühgeschichtlichen Phase sind die Guten und Tugendhaften anscheinend mit Wiedergeburt um Wiedergeburt auf der Welt belohnt worden, die als ein höchst erstrebenswerter Ort des Daseins galt. Dies lief auf eine irdische Unsterblichkeit in immer wieder verjüngten Körpern hinaus. Schließlich sollten diese tugendhaften Menschen zum Dienst bei den unsterblichen Göttern gerufen werden. Die Sündigen hingegen wurden in jenem frühen Stadium dieser Glaubensvorstellungen mit ewig währendem Tod oder Nichtexistenz „bestraft“. Später scheint es in einigen Kulturen (zum Beispiel bei den Griechen und Indern) eine Verschiebung der Vorstellungen vom Leben auf dieser Welt gegeben zu haben. In dieser späteren Phase besagte der Glaube, dass die Sündigen mit ständigen Wiedergeburtszyklen auf der Welt bestraft, die Tugendhaften hingegen mit einer ewigen Existenz unter den Göttern und Helden belohnt würden.
Pythagoras und der linkshändige Pfad
Es heißt, dass die Lehren des griechischen Philosophen Pythagoras (ca. 582 - 507 v.u. Z.) aus einem breiten Spektrum von Quellen schöpfen – sowohl Ägypten, Chaldäa (Babylon) als auch Hyperborea (der äußerste Norden).13 Dennoch kann nahezu alles, was Pythagoras als Hauptlehre zugeschrieben wird, aus der hellenischen Geisteswelt oder deren indoeuropäischen Entsprechungen abgeleitet werden. Auch wenn Pythagoras tatsächlich weit gereist sein und in den entlegensten Zentren esoterischen Wissens gelernt haben mag, erscheint es sehr wahrscheinlich, dass er das, was er dort erfahren hat, nach einer spezifisch hellenischen Methodik zusammengefasst hat. Die meisten der pythagoreischen Grundannahmen über Ursprung und Bestimmung der menschlichen Seele sind von den orphischen Mysterien abgeleitet. Pythagoras und seine Schüler transformierten die Verfahrensweise des Initiationsprozesses von einer äußerlichen, erfahrungsbezogenen zu einer inneren, philosophischen Methodologie. Platon sollte diese hellenische philosophische Tradition noch verfeinern.
Pythagoras machte aus der Philosophie eine „ganzheitliche Wissenschaft“ mit einem allgemeinen Existenzverständnis. Er verkündete, dass die Zahl die „Wurzel“ oder das Prinzip (gr. archê) aller Dinge sei. Doch standen Zahlen in seiner Philosophie eher für Qualitäten statt für Quantitäten,14 weshalb seine scheinbar quantitative Forschung als eine qualitative verstanden wurde. Die Mathematik enthüllte eine verborgene Wirklichkeit, die hinter dem Schleier der Erscheinungen lag. Für Pythagoras bedeutete das Verstehen der Verbindungen und Harmonien zwischen Zahlen das Verständnis der Harmonien unter den Dingen an sich.
Die Merkmale des linkshändigen Pfades sind im Pythagoreismus eher implizit als explizit. Pythagoras war primär an der Erkenntnis der Grundlagen universaler Harmonie interessiert: daran, wie alle Dinge sich so herrlich zusammenfügen, sowie an der Entdeckung der „Sphärenmusik“.
Platon und der linkshändige Pfad
Obwohl Platon selbst nie für sich in Anspruch genommen hätte, ein eigenes philosophisches System erdacht zu haben, da er alles wahre Wissen auf eine „Rückerinnerung“ (gr. anamnesis) an Inhalte, die in der Seele angelegt sind zurückführte, kann man von ihm sagen, dass er die größte und wirkmächtigste Ausgestaltung und Systematisierung der idealistischen Philosophie vorgelegt hat. Platon bediente sich souverän einer breiten Vielfalt von Quellen, insbesondere der hellenischen Mysterien und des Pythagoreismus, doch er tat dies mit einer nie zuvor da gewesenen Klarheit und Sachlichkeit.
Es wäre nicht richtig, Platons Idealismus als den Ursprung der Philosophie zu betrachten. Er ist das Ergebnis eines jahrtausendelangen Prozesses überlieferter Spekulationen und intellektueller Forschungen, der mit dem Morgendämmern der indoeuropäischen Kultur ihren Anfang nahmen. Unter allen Sprachen der Welt kennen nur die indoeuropäische und die von ihr abgeleiteten Sprachen die wahre Bedeutung des Verbs „sein“ im Sinne von „existieren“. Ursprünglich gab es mindestens zwei indoeuropäische Verben, um das „Sein“ zu beschreiben: Eines davon bedeutete „sein“ im Sinne einer Prädikation, zum Beispiel in einer beschreibenden Aussage wie „der Stuhl ist rot“. Mit dem anderen Verb war „sein“ im Sinne von Existenz gemeint, wie in dem berühmten Ausspruch: „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage.“ In der indoeuropäischen Ursprache waren das die Verben *bheu- (für die Prädikation) und *wes- (existieren).15 Im Altenglischen drückte sich diese Unterscheidung entsprechend in den Verben beon und wesan aus. Mit dem – durch das Einströmen mittelöstlichen, von den Kirchen propagierten Gedankengutes herbeigeführten – Untergang der eingeborenen indoeuropäischen Denkweise fielen die beiden Verben zu einem zusammen. Dieser sprachliche Prozess wird „Suppletion“ genannt, und darum ist die Bedeutung des Verbs „to be“ im Englischen so uneinheitlich: weil es von einem Gemisch unterschiedlicher Wortstämme abgeleitet ist.
Was hat dies alles mit Platon oder dem