Beide philosophische Richtungen waren sowohl im hellenistischen Griechenland als auch im republikanischen und kaiserzeitlichen Rom populär. In den Tagen des Imperiums wurde die Stoa geradezu zur „Staatsphilosophie“. Zwei ihrer bekanntesten Exponenten waren der republikanische Staatsmann Cicero (106 - 43 v.u. Z.) und der Kaiser Marc Aurel (121 - 180 u. Z.).22
Aus unserer Perspektive betrachtet, liefern diese beiden antiken Denkschulen entscheidende Ansätze zum Verständnis des linkshändigen Pfades. Die Epikureer vertreten die Auffassung einer materialistischen, fleischlichen Kosmologie, wie sie auch für die Denkweise des „immanenten Zweiges“ des linkshändigen Pfades von wesentlicher Bedeutung ist, während die Stoiker den platonischen und neuplatonischen Idealismus bis hin zur Vergöttlichung der Toten weiterentwickelt haben.
Der linkshändige Pfad im Norden
Der germanische linkshändige Pfad
Während wichtige Wurzeln des westlichen linkshändigen Pfades sich im Mittelmeerraum aus einer philosophischen, nonkonformen Haltung heraus entwickelten, finden wir die Wurzeln des linkshändigen Pfades in den nördlichen Gefilden im Grunde der etablierten Kultur. Während Zeus/Jupiter, der indoeuropäische Gott von Gesetzes und Ordnung, im Süden herrschte, hatte Odin/Wodan, der Gott der Magie und des Todes, im Norden seine Macht inne. Die Gottheit desselben indoeuropäischen Ursprungs wird bei den Iren „Lugh“ (gesprochen „luh“) und bei den Walisern „Lleu“ (gesprochen „lai“) genannt. „Lugh/Lleu“ bedeutet wörtlich übersetzt „Licht“ – und der gebräuchliche walisische Name Llewellyn bedeutet „Lichtbringer“ (vgl. lat. „Lucifer“).
Wenn wir uns auf die Suche nach der dunklen Seite der nordischen Mythen machen, kommen wir an Odin nicht vorbei. Der Name „Odin“ bedeutet „Herr der Inspiration“.23 Die altnordische Form ist „Óðinn“. Der Schlüssel zu diesem Namen liegt in dem altnordischen Wort óðr, das „dichterische Inspiration“ bedeutet und von der urgermanischen Wurzel wōð- abgeleitet ist, was „Wut“ und „Inspiration“ gleichermaßen bedeutet. Der altnordische Name „Óðinn“ ist identisch mit dem altenglischen „Woden“ (es ist eine sprachliche Regel im Altnordischen, vor bestimmten Vokalen den Anfangsbuchstaben „W“ wegzulassen). Dies ist ein ausgesprochen „psychischer“ Gott, da sein Name und seine Funktion sich auf essentiell seelenbezogene oder psychologische Kräfte und Fähigkeiten beziehen. Häufig wird er als ein düsterer Gott der Intrigen und mysteriösen Ränke beschrieben.
Odins maßgebliche Rolle bei der Gestaltung der Welt und der Entstehung der Menschheit ist in der nordischen Mythologie klar umrissen. Mit seinen beiden Brüdern Vili (Wille) und Vé (Heiligtum) zusammen (die eigentlich Seinsstufen seiner selbst sind) vollbringt Odin das erste Opfer mit der Tötung des Riesen Ymir, aus dessen Körperteilen sie den materiellen Kosmos formen. Um universelles Wissen zu erlangen, gibt (opfert) sich Odin „sich selbst“ und empfängt die Runen, Symbole gegliederten universellen Wissens.24 Diese Runen teilt er mit bestimmten Menschen. Ferner opfert Odin eines seiner Augen – das darauf in Mimirs Brunnen (dem Brunnen der Erinnerung) versinkt –, um die seherische Gabe zu erlangen, die der Brunnen jenen zuteil werden lässt, die aus ihm trinken.25 Er (und mit ihm jeder seiner beiden anderen Aspekte) beschenkt die Menschen mit dreifachen spirituellen Qualitäten, die sie von da an mit den Göttern teilen.26 Was das Teilen des göttlichen Bewusstseins und der Runen mit den Menschen betrifft, ähnelt Odin sehr dem Prometheus der hellenischen Mythologie. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass Odin mit seinem Handeln nicht gegen ein herrschendes Gesetz verstößt.
In Gestalt von Rig („König“) zeugt er mit drei verschiedenen Menschenfrauen die drei gesellschaftlichen Klassen: Bauern, Krieger und Könige.27 So ist er nicht nur für die seelischen Strukturen der Menschen verantwortlich, sondern ebenso für die gesellschaftlichen Strukturen – beide spiegeln die göttliche Ordnung wider. Aus diesem Grunde wird Odin auch Alfaðir oder Alföðr (Allvater) genannt. In der Gestalt des Bölverkr (Übeltäter) beschafft er den Göttern und den Menschen durch eine List den Skaldenmet der Inspiration.
Selbst in vorchristlicher Zeit hatte Odin bereits etwas „Düsteres“ an sich oder einen gefährlichen Ruf. Dies hat vielerlei Gründe, doch der Hauptgrund für seinen Ruf scheint, dass er in Dinge vertieft ist, die für Menschen nur schwer begreiflich sind und die sie deshalb fürchten und vor denen sie zurückschrecken. Dennoch gilt Odin als höchster Gott der germanischen Welt vom angelsächsischen England bis nach Deutschland und von Island bis Schweden. Zu seinem düsteren Ruf trägt auch bei, dass er in seinem Streben nach Wissen und Macht die zwei – ethisch betrachtet – größten Verbrechen beging: Um die Weltordnung zu errrichten, tötete er einen Verwandten (dieses Verbrechen hat er mit dem griechisch-römischen Zeus-Jupiter gemeinsam), und um den Skaldenmet zurückzuerlangen, bricht er einen Eid. Diese und andere Taten lassen Odin den meisten Menschen unzuverlässig erscheinen.
In der alten germanischen Überlieferung ist Odin beides: der Herr des Lichtes und der Fürst der Dunkelheit. Er ist der Gott der Elite und des Adels, daher der Gott des Königtums und der Herrschaft. Er ist der Vater der Magie und der Kraft, zu erschaffen und zu zerstören. Er ist der Gott der Dichtkunst: der Gott der Formulierungskunst und der Kodifizierung des Wissens. Sowohl seine magische Kraft als auch seine „gnostischen“ Formeln verkörpern sich in den Runen („Mysterien“). Schließlich ist er noch der Gott der Toten, der über den Tod gebietet, wie seine Herrschaft über alle Transformationsprozesse zeigt. Es sollte noch angemerkt werden, dass der keltische Lugh/Lleu nahezu all diese essentiellen Eigenschaften mit seinem germanischen Pendant teilt.28
Die Geschichte der Bekehrung der germanischen Stämme zum Christentum ist für das bessere Verständnis der späteren Entwicklungen in der germanischen Welt und unter den Nachkommen dieser Stämme in Richtung des linkshändigen Pfades bedeutsam.
Unter den germanischen Völkern, die als erste zum Christentum konvertierten, waren einige gotische Stämme, die der theologischen Schule des Arianismus anhingen. Der Arianismus ist nach Arius von Alexandria, einem Priester aus dem vierten Jahrhundert, benannt. Arius war der Meinung, dass der Sohn vom Vater erschaffen wurde und daher nicht mit ihm identisch sei. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Goten ihr eigenes, spezifisch germanisches Christentum entwickelt hatten, denn alle germanischen Stämme, die zum neuen Glauben übertraten, konvertierten gleichermaßen zu dieser „gotischen Kirche“. Die Goten trennten ihre Religion und ihr Volk von der römischen Kirche und den römischen Bürgern ab. Diese Art nationaler Selbstbestimmung ist jedoch dem universalistischen, imperialistischen römischen (katholischen) Geist ein Gräuel. Die gotische Form des Christentums ist durch den Willen gekennzeichnet, biblische Texte in der allgemein gebräuchlichen Sprache zugänglich zu machen (der gotische Bischof Wulfila übersetzte die Bibel um 350 u. Z.), weiterhin durch die Einbeziehung des Volkes in die Liturgie (die römischen Christen verachteten die gotische Praxis, traditionelle Volkslieder mit religiösen Texten umzuschreiben), durch den Glauben daran, dass der Mensch grundsätzlich frei von der Erbsünde geboren wird und Erlösung durch eigene gute Taten erlangt, und dadurch, dass Jesus ein Mensch war, der einen gottgleichen Status erreicht hat und anderen als Beispiel voranging, auf dass sie ihm folgen mögen. Wenn man diese Lehren mit dem römisch-orthodoxen System vergleicht, das weiter unten behandelt wird, sind die Unterschiede offensichtlich. In einer freien Welt – wie sie die germanischen Völker gewohnt waren – wären solche Unterschiede als Normalzustand betrachtet worden, doch der göttliche Plan der römisch-katholischen (= universalen) Kirche fordert: „Ein Gott, eine Kirche, ein Papst!“
Der historische Durchbruch des Universalismus erfolgte im Jahre 496 mit der Konversion des fränkischen („französischen“) Königs Chlodwig (Ludwig/Louis/Clovis) zum römischen Christentum. Chlodwig konvertierte, um von Rom militärische Unterstützung für seine Eroberungspläne in Südfrankreich zu bekommen, das bis dahin von den arianischen Westgoten dominiert wurde. Von da an war der Frankenkönig