Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietrich Loeff
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783938555286
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68 Jahren nicht ganz leicht gefallen sein können, nie über besondere Härten berichtet, die sich nicht aus den Notwendigkeiten der Enttrümmerung selbst ergaben. Natürlich war es Zwangsarbeit, aber getan werden musste sie ohnehin.

      Meine Mutter stammte von Bauernfamilien in Niederschlesien. Die Großmutter war aus Deutsch-Nettkow, ihre Eltern waren Mittelbauern. Das Dorf heißt heute Nietkowice und liegt ungefähr in der Mitte zwischen Krossen (Krosno Odrzańskie) und Grünberg (Zielona Gora), direkt an der Oder. Meine Großmutter starb im Winter 1945 an den Spätfolgen der Flucht mit ihren Strapazen. Mein Großvater mütterlicherseits stammte aus dem nahen Dorfe Beutnitz. (Bytnica). Seine Eltern waren ebenfalls Bauern, er aber schlug eine Beamtenlaufbahn ein. Da er 1937 gestorben ist, kannte ich ihn nicht.

      Meine Mutter kam 1904 in Potsdam zur Welt, doch zogen meine Großeltern sehr bald mit ihr nach Berlin. Sie war sprachbegabt und eine gute Zeichnerin. Ein Hochschulstudium hätte sich angeboten, doch reichte das Beamtengehalt meines Großvaters nicht weit und die Ehefrauen von Beamten durften damals nicht arbeiten, weil das den Staat blamiert hätte, der seine Beamten schlecht bezahlte. Deshalb wurde nur dem jüngeren Bruder meiner Mutter, Walter, eine gediegene Ausbildung ermöglicht, der ein guter Techniker wurde und an den Anfängen der deutschen Fernsehindustrie in den dreißiger Jahren beteiligt war.

      So wurde meine Mutter Schreibkraft, geübt in Stenografie und Schreibmaschinenarbeit. Durch ihre Umsicht arbeitete sie sich zur Sekretärin herauf und war bis 1933 im preußischen Innenministerium tätig. Als die Nazis an die Macht kamen, verlangten sie von ihr, aus der SPD auszutreten. Das lehnte sie ab. Daraufhin wurde sie ohne weitere Umstände aus dem Innenministerium in eine Krankenkasse versetzt. Das betreffende Schriftstück befindet sich noch in meinem Besitz. Der Empfang am neuen Arbeitsplatz war bemerkenswert: „Ach deswegen sind Sie nach hier umgesetzt worden? Na, dann werden wir gut zusammenarbeiten“, empfing sie ihr neuer Chef. Meine Mutter hat sich dann in die sehr andere Aufgabe rasch eingelebt, erforderliche Prüfungen gut gemeistert und ihre Tätigkeit auch nach dem Kriege und längerer Krankheit ab 1950 fortsetzen können.

      Anderen Beschäftigten des preußischen Innenministeriums ging es schlechter. Ein hochkarätiger Jurist, den sie kannte, Robert Kempner, wurde, weil er Jude war und auch öffentlich gegen die Nazis anschrieb, entlassen und drangsaliert. Er emigrierte voller Zorn in die USA. Bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen war er Stellvertreter des Chefanklägers der USA, Robert H. Jackson und hat sich auch danach – wieder in Deutschland lebend – intensiv für die Bestrafung der Schuldigen und die Entschädigung der Opfer eingesetzt.

      Ende des Jahres 1949 erlitt mein Vater einen Herzinfarkt. An eine medizinische Behandlung nach heutigen Maßstäben oder auch nur einen Krankenhausaufenthalt war natürlich nicht zu denken. Der sehr engagierte Hausarzt, dem wir auch lange danach die Treue gehalten haben, machte einige Hausbesuche und verordnete Tropfen, ähnlich dem heutigen Medikament Nitrangin, die zwar die Beschwerden etwas linderten, aber weder die gestörte Herzdurchblutung verbessern noch die stark reduzierte Herzleistung günstig beeinflussen konnten.

      Im Herbst 1950 nahmen seine Beschwerden trotz aller Behandlungsbemühungen wieder zu. Als ich am 28. September von der Schule kam, öffnete er mir auf mein Klingeln nicht. Meine bald danach eintreffende Mutter und ich fanden Vater dann, quer auf der Couch liegend, tot vor. Offensichtlich hatte er noch versucht sich aufzurichten, um besser Luft zu bekommen und verlor dann das Bewusstsein. Das war für mich Dreizehnjährigen natürlich ein Schock. So war meine Mutter mit mir allein.

      Sie hat viel – sehr viel – als Alleinerziehende leisten müssen, um mich durchzubringen. Kindereinrichtungen und Schulhorte gab es kaum, ihr Gehalt war nicht üppig und die Arbeitszeit oft lang. Überstunden waren an der Tagesordnung, denn in der Verwaltung der Sozialversicherung liefen Wiederaufbau und Tagesarbeit nebeneinander her.

      Später wurden dann bestimmte Aufgaben der Krankengeldberechnung in die Betriebe verlagert und meiner Mutter oblag es, die dortigen Buchhalter in das Sozialrecht einzuweisen. Auch daraus entsprang Mehrarbeit. Und das sei auch noch erwähnt: die heute für „normal“ gehaltenen langen Bearbeitungszeiten für Leistungen der Sozialversicherung gab es in der DDR nicht. Die Altersrente wurde, ohne vorherige Kontenklärung oder ähnliche Formalitäten, nach einem einfach auszufüllenden Antrag innerhalb weniger Wochen berechnet und ausgezahlt. Ich bin damals niemandem begegnet, der durch die Formalitäten so in Anspruch genommen war, dass er darüber geredet hätte.

      Ich wurde am 10. April 1937 in Berlin geboren. Abgesehen von sehr verschwommenen Eindrücken aus meiner früheren Kindheit erinnere ich mich an Vorkehrungen, die gegen Bombenangriffe auf Berlin getroffen wurden, an einige Bombennächte und ziemlich deutlich an eine durch Rundfunknachrichten und Meldungen vermittelte allgemeine Trauer. Mir fünfjährigem Jungen wurde zum ersten Male im Leben ein Zeitungsbild gezeigt. Zu sehen waren darauf weite Schneeflächen und eine Silhouette von Ruinen im Hintergrund. Erst später bekam dieses Bild für mich einen Namen: Stalingrad.

      Im Sommer 1943 mussten meine Mutter, meine Großmutter und ich innerhalb einer Evakuierung von in Berlin entbehrlichen Personen den beginnenden Flächenbombardements auf die Stadt ausweichen und kamen in Deutsch-Nettkow beim Bruder meiner Großmutter unter, wo ich auch eingeschult wurde. Der Ort Deutsch-Nettkow/Nietkowice liegt etwa 150 Kilometer Luftlinie südöstlich von Berlin. Mein Vater musste wegen seiner Arbeit in Berlin bleiben.

      Voller Angst horchten wir in manche Nacht hinein, wenn Bomberanflüge auf Berlin gemeldet waren, wir ein dumpfes Grummeln von dort hörten und sahen, wie sich der Himmel rötete. Auch andere Zeichen zeigten uns immer deutlicher die bevorstehende Niederlage Deutschlands, bis Ende Januar 1945 die Sowjetarmee das Gebiet in teils schweren Kämpfen eroberte.

      Nachfolgend schlossen sich mehrere Monate mit allen Nebenerscheinungen des Krieges an: Ausplünderungen, Vergewaltigungen, ihrer Kleidung beraubte, tote Soldaten in den verschneiten Wäldern, Lebensmittelmangel, eine Frau, die mit sowjetischen Offizieren schlief, um ihr Kind zu ernähren, Verrat unter Deutschen (ganz gutmütige sowjetische Soldaten wurden zum Schutz der eigenen jungen Tochter weitergeschickt mit dem detaillierten Hinweis, wo andere Frauen wären), sowjetische Soldaten, die unter eigener Gefahr Zivilisten schützten, hilfsbereite und kinderliebe Soldaten verschiedener sowjetischer Nationalitäten, ein reiches Geburtstagsmahl aus Speck für mich in einer russischen Feldküche und wütende Ukrainerinnen, die Milch lieber auf die Erde gossen („Deutsche Schweine, geht zu Hitler“), als sie uns zu geben.

      Das damalige Schulsystem unterschied sich gewaltig vom heutigen. Wir kannten in Berlin 1945 die Grundschule (Volksschule), die alle besuchen mussten und die mit der 8. Klasse abschloss. Es gab die Möglichkeit, nach der 4. Grundschulklasse zur Oberschule zu gehen. Die Oberschule entsprach einem heutigen Gymnasium und führte nach zwölf Klassen, davon acht Oberschulklassen, zum Abitur.

      1951