Bei diesen Treffen lernte die Jugendgruppe der Grace Bible Church ihre Einzigartigkeit richtig schätzen. Jedes Jahr bewiesen wir sie erneut, indem wir den heißbegehrten Klospülkastenpreis mit nach Hause brachten. Der Klospülkastenpreis sah genauso aus, wie er sich anhört: Es war ein Klospülkasten, der auf einem Holzbrett angebracht war und derjenigen Jugendgruppe verliehen wurde, die das Wochenende über die meisten Punkte für Siege beim Sport, bei Spielen, bei Bibelquizzen und dem alles überragenden Talentwettbewerb ergattern konnte. Die meisten dieser Aktivitäten waren leichtes Spiel für uns, weil wir alle so grundverschieden waren. Wir konnten Musiker, Athleten, Bibelnerds und Theaterfreaks gleichermaßen vorweisen. In einem Jahr haben wir stehende Ovationen bekommen, weil wir eine Minivariante von Stomp aufführten, bei der Mitglieder der Drumline aus der Highschool auf leeren Mülltonnen herumtrommelten.
Unsere Schwäche war der Spielebereich. Jetzt muss man wissen, dass das Wort „Spiele“ im Kontext einer christlichen Jugendgruppe etwas völlig anderes meint als in jedem anderen Umfeld. Ich vermute, dass alleine in den späten 90ern die Spiele christlicher Jugendgruppen Millionen Ansteckungen am Pfeiffer’schen Drüsenfieber zu verantworten haben, ebenso tausende gebrochener Knochen, dutzende Fälle, in denen jemandem der Magen ausgepumpt werden musste, und zahllose Therapiestunden. Denn typischerweise ging es darum, unsichere, hormongeladene Teenager in so peinliche wie gefährliche Situationen wie möglich zu bringen. Meistens führte das unweigerlich dazu, dass jemand sich entweder erbrach oder eine Erektion bekam.
Es gab Vertrauensspiele und Stafetten, Hochgeschwindigkeitsvarianten von „Faules Ei“, der Reise nach Jerusalem, Völkerball und Red Rover, eine Art Kettenfangen, bei dem ein Mitspieler des einen Teams versuchen muss, die Kette des anderen Teams zu durchbrechen (aber nur bis das verboten wurde, weil ich glaube, dass wirklich Leute dabei gestorben sind). Wir haben Sardinen gespielt (man stopfe 25 Jugendliche eine Stunde lang in das gleiche, dunkle Versteck), Ansaugen-und-Weitergeben (im Kreis eine Kreditkarte weitergeben, indem man sie nur mit dem Mund ansaugt) und Two-Buck-Chuck (bei dem man zwei Dollar bekam, wenn man es schaffte, zwei Liter Milch zu trinken, ohne sich zu übergeben). Dann gab es da dieses Spiel, bei dem man mit dem Mund nach Snickers fischen musste, die in einer Kloschüssel voller Limonade schwammen, und das Spiel, wo man eine Banane essen musste, während man eine Feinstrumpfhose über dem Kopf hatte, und dann noch das, bei dem man seinem Partner Käseflips ins Gesicht werfen sollte – das über und über mit Rasierschaum bedeckt war. Ganz klar: ein immerwährender Zirkus purer Freude und Glückseligkeit für die Introvertierten unter uns.
Ich habe neulich mit ein paar meiner Leser auf Twitter Berichte aus dem Schlachtgetümmel unserer Jugendgruppen ausgetauscht, und ihre Geschichten waren mehr als unerquicklich:
„Ich habe gesehen, wie Leute Milchshakes tranken, die aus kompletten Happy Meals hergestellt wurden.“
„Ich habe mal gesehen, wie jemand einem anderen Erdnussbutter aus der Achselhöhle lecken musste.“
„Wir haben die kleinsten Mittelstufenschüler genommen und sie mit Gaffertape an die Wand geklebt. Das Team, dessen Mitglied am längsten kleben blieb, hat gewonnen.“
„,Klau-den-Speck‘ mit Vaseline und Wassermelone. Drei Teilnehmer mit Gehirnerschütterung und ein Jugendleiter mit herausgerissenem Brustwarzenpiercing.“
„Drei Worte: Volleyball bei Strobolicht.“
„Einmal musste ich eine Zwiebel wie einen Apfel essen. Warum, weiß ich nicht mehr.“14
Die Jugendgruppe der Grace Bible Church hatte das Glück, dass Brian unter einer schwachen Angststörung litt und deswegen Jugendgruppenspiele ebenso wenig leiden konnte wie wir. Daher wurden wir ihnen nur bei Veranstaltungen wie dem im Camp Maxwell ausgesetzt, wo wir schreckerstarrt zusahen, wie andere, sonst eigentlich völlig normale Teenager, versuchten, mit ihren Zähnen Kaugummis von den Sohlen ihrer Turnschuhe abzuziehen.
An dem kühlen Abend, an dem sich unsere Geschichte zutrug, war das Spiel, das zwischen der Jugendgruppe der Grace Bible Church und dem Klospülkastenpreis stand, natürlich „Chubby Bunny“. Bei Chubby Bunny geht es darum, dass sich mehrere „Freiwillige“ so viele Marshmallows wie möglich in den Mund stopfen und versuchen, „Chubby Bunny“ zu sagen, ohne sich zu übergeben oder daran zu ersticken. Die Person, die das mit den meisten Marshmallows im Mund schafft, gewinnt.
Jetzt war es so, dass wir, die Jugendgruppe der Grace Bible Church, Chubby Bunny hassten. Wir waren zu cool für Chubby Bunny. Wir durchschauten die heimtückische List. Aber wir brauchten jemanden, der für uns Chubby Bunny spielte, wenn wir den Klospülkastenpreis gewinnen und die anderen Jugendgruppen ein für alle Mal auf ihre Plätze verweisen wollten.
Während die Wettbewerber ihre Delegierten unter Jubelrufen auf die Bühne schickten, saßen wir still in unseren fünf hölzernen Bankreihen und scharrten mit den Füßen in den Sägespänen.
„Wir brauchen einen Freiwilligen von der Grace Bible Church!“, rief jemand mit viel zu vielen Gummiarmbändern am Handgelenk ins Mikrofon.
Namen wurden geflüstert. Blicken wurde ausgewichen. Brian sah so verängstigt aus wie wir anderen auch.
Dann kam von ganz hinten eine ruhige, sichere Stimme.
„Ich mach’s.“
Wir drehten uns alle um.
Mike war ein Junge aus der letzten Reihe wie aus dem Bilderbuch. Er war groß und rothaarig, hatte ein freches Mundwerk und war ein echter Draufgänger, der sich seine Zeit so einteilte, dass er sie wahlweise beim Nachsitzen oder in der Notaufnahme verbrachte. Wenn Mike etwas nicht mochte, teilte er das mit, und Mike mochte weder die Gemeinde noch die Schule noch Camp Maxwell besonders. Aber er hatte ein sanftes Zwinkern in den Augen, und er hatte so einen schrägen, punktgenauen Witz, dass selbst wir Bibelnerds ihn mochten. Ich weiß, dass ich nicht das einzige Mädchen war, das es genoss, ihm ein Lächeln auf die trotzigen Lippen, über das sommersprossige Gesicht, das kantige Kinn und diese dicken Backen zu zaubern … Backen, die für Chubby Bunny wie geschaffen waren.
Ohne ein weiteres Wort marschierte Mike den Mittelgang hinunter und nahm seinen Platz zwischen einem Mädchen in ausgebeulten Latzhosen aus Birmingham und einem völlig verängstigten Junior-High-Schüler aus Huntsville ein. Sie zwangen ihn, einen Müllsack wie ein Schlabberlätzchen zu tragen. Er war unsere Katniss Everdeen, der Tribut, den wir zollen mussten. Unnötig zu sagen: In diesem Jahr gewannen wir den Klospülkastenpreis zum dritten Mal in Folge.
Und so kam es, dass ein Mädchen, das in der Bereitschaft, zu sterben, zur Schule ging, vor Begeisterung kreischte, während Mike-aus-der-letzten-Reihe sich im Ringen um den Klospülkastenpreis Marshmallows ins Gesicht schob. Ich schreibe jedes bisschen Sozialkompetenz in meinem Leben Brian Ward und meiner Zeit in der Jugendgruppe der Grace Bible Church zu. Zu einer Zeit, in der die meisten meiner Altersgenossen sich damit abmühten, herauszufinden, wer sie waren, wusste ich ganz genau, wer ich war: das Kirchenmädchen, das Mädchen, das immer einen Platz in ihrer Jugendgruppenfamilie hatte, das Mädchen, das für Gott in Flammen stand. Ich weiß nicht, ob ich den Wert dieser Gemeinschaft, dieses Zugehörigkeitsgefühls und des Wissens, dass ich geliebt bin, je richtig einschätzen kann.
Es kam mir nie in den Sinn, dass solch ein Feuer ausgelöscht werden könnte.
FÜNF
Genug
Die meisten von uns finden auf Wegen zur Kirche, die die Kirche nicht erlaubt.
– Flannery O’Connor
Ich habe nie jemanden kennengelernt, der sich so sehr auf seine Taufe freute wie Andrew.
„Nur noch 13 Tage!“, sang der 19-Jährige, als würde er