Kernbeißer und Kreuzschnäbel. Rainer Kloubert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Kloubert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783961600502
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      Rainer Kloubert

      Kernbeißer und Kreuzschnäbel

      Ein Sittenbild aus dem alten Peking

      Grundlegend erweiterte, illustrierte und mit einem Glossar versehene Ausgabe

      Elfenbein

      Erste Auflage 2021

      © 2021 Elfenbein Verlag, Berlin

      Einbandgestaltung: Oda Ruthe

      unter Verwendung einer Tuschzeichnung von Qi Baishi (1863–1957):

      »So klein ein Vogel auch sein mag,

      er hat doch Galle und Leber.«

      Alle Rechte vorbehalten

      ISBN 978-3-96160-050-2 (E-Book)

      ISBN 978-3-96160-035-9 (Druckausgabe)

      Inhalt

       Titelseite

       Impressum

       1 Vorbemerkung

       2 Pekinger Vögel im Allgemeinen

       3 Käfige Gestelle und Paraphernalia

       4 Futter

       5 Singvögel

       6 Ziervögel

       7 Spielvögel

       8 Nachspiele

       9 Epilog

       10 Glossar

      Vorbemerkung

      Auch ich bekam eine Einladung nach China, als das Land sich wieder zu öffnen begann. Schon mein Großvater und mein Großonkel waren dort gewesen, eine Familientradition. Ich nahm die Einladung an und flog hin – über Bukarest, den Himalaja und Urumtschi, die Ohren voll vom Dröhnen der Motoren und von alten Geschichten.

      Dem Land waren nach der Kulturrevolution die Wörter zur Verständigung mit den Barbaren ausgegangen: Mit den alten allein ging es nicht mehr, die Welt hatte sich weitergedreht. Und die Wörterbücher waren Makulatur geworden, weil Mao Zedong die alten Schriftzeichen abgeschafft und neue eingeführt hatte.

      Das Fremdspracheninstitut (外语学院), wo sich die Redaktion befand, in der ich einen Platz bekam – mir gegenüber saß ein mongo­lischer Prinz, dem in der Kulturrevolution die Zähne ausgeschlagen worden waren; er hatte in Schlesien sein Abitur gemacht –, lag nicht weit entfernt vom »Park zu den Duftenden Bergen« (香山公园), einer Pekinger Hügelkette, von der ich schon als Kind geträumt hatte: Zu meinen frühen Leseerinnerungen zählte ein Buch über die Abenteuer eines deutschen Jungen während des Boxeraufstands. Die Abenteuer habe ich vergessen, nicht aber die bunte Karte eines von Mauern umgebenen Parks. Das Innere bestand aus Dutzenden von Anwesen, jedes einzelne wieder von Mauern umschlossen. Eine große Welt und in ihr viele kleine – achtundzwanzig, ich zählte sie mit dem Finger, um sicherzugehen: genau achtundzwanzig. Ich konnte mich an ihnen nicht sattsehen. Das Buch hatte ich aus der Stadtbibliothek, und ich lieh es mir immer wieder aus, nur um die Karte zu studieren und mir auszumalen, wie es wohl gewesen wäre, hätte ich zur Zeit der Boxer in Peking gelebt.

      Ein zweites Mal stieß ich auf die Karte unter den Papieren meines Groß­onkels, ein drittes Mal auf einer Anschlagtafel vor dem »Park zu den Duftenden Bergen« (香山公园) selbst. Es musste wohl etwas be­deu­ten, war mir durch den Kopf gefahren, als ich davorstand. Ein kom­mendes Unheil, das seinen Schatten vorauswarf? Unwillkürlich trat ich drei Schritte zurück.

      In den nächsten Monaten und Jahren durchstreifte ich an Wochen­enden die »Duftenden Berge«: Verfallene chinesische Tempel, eingestürzte europäische Sommerresidenzen, Reste eines tibetischen Klosters, zusammengefallene Mauern, hinter denen sich nur noch Fun­damente verbargen; Pagoden aus glasierten Ziegeln mit zugemauerten Eingängen. Steinerne Schildkröten blickten mich höhnisch an, als ich vor Freitreppen stand, die jäh aufhörten; abgerutschte Terrassen dahinter, und dazwischen, wie Zeugen, denen man kein Wort glaubt: Kiefern, Fichten, Föhren, Lärchen, Pappeln und Buchen, die meisten von ihnen vernarbt, verwundet oder verkrüppelt. Hin und wieder kam mir ein Zug von Kamelen entgegen, die Säcke voller Kohle aus den Westbergen in die Kompressorenfabrik Nr. 23 brachten, ein ehemals buddhistischer Tempel am Fuße der Westberge. Sie schritten gemächlich aus, Schritt für Schritt, man hörte die Tritte nicht – nur das »dang dang dang« (当当当) des Glöckchens am Nacken des Leitkamels. Eilig schienen sie es nicht zu haben, nur manchmal, wenn sie einem Auto ausweichen wollten, was selten geschah, setzten sie sich für ein paar Schritte in Trab: ein unziemlicher Anblick, wie eine alte würdevolle Tante, die auf einmal zu rennen beginnt. Die Kohle, die sie in die Fabrik brachten, von braunschwarzer Farbe und wächsernem Glanz, gab weder Rauch noch Flammen von sich. Sie hatte früher, zu Kaisers Zeiten, in Becken angezündet ausschließlich zur Beheizung der Räume der Verbotenen Stadt und des Sommerpalastes gedient.

      Im Hof der Fabrik blieben die Kamele stehen und warteten stumm auf das Kommando ihres Führers; er trug einen Mantel aus Schaffellen, deren haarige Seite nach innen gekehrt war, und sah genauso zottelig aus wie seine Kamele. Wenn das Kommando erklang – »sssssssss« – knieten sie sich hin, zuerst mit den Vorderbeinen, dann mit den Hinterbeinen. (Beim Aufbruch war es umgekehrt: zuerst die Hinterbeine, dann die Vorderbeine.) Ich hatte oft dabei zugesehen. Erst wenn sie sich niedergekauert hatten, nahm der Führer seine Pelzmütze ab; von seinem kahlen Schädel stieg ein Dampfwölkchen auf, das sich sofort in der kalten und trockenen Luft auflöste. Weiße Eiszapfen klimperten an den Kinnladen. Was für zottelige Köpfe, hatte ich gedacht, was für lange, gelbe Zähne. Die oberen Zähne mahlten nach rechts, die unteren nach links, dann wieder umgekehrt; man hörte keinen Ton, sie kauten so geräuschlos, wie sie auch gingen. Ich war so fasziniert von dem Mahlen der Zähne, dass ich es unwillkürlich nachahmte.

      Eines Tages, als ich wieder einmal, den Kopf voll von chinesischen Zeichen, in den »Duftenden Bergen« spazierenging, begegnete ich mitten im Wald einem Mann, der einen Käfig trug, in dem ein Vogel saß. Ein Kanarienvogel, dachte ich, wie sie auch in meiner Heimat in Käfigen gehalten wurden – aber es war kein Kanarienvogel, sondern ein Rotkehlchen. Es war auch sonst ein Tag voller merkwürdiger Begegnungen gewesen, jede hatte mit der anderen in einem wunderlichen Zusammenhang gestanden.

      Ein schmaler Ziegenpfad hatte entlang eines ausgetrockneten Bachbetts durch Geröll und Gebüsch steil nach unten geführt. Die Erde war noch feucht und glitschig von einem Sommerguss, man musste aufpassen, dass man nicht ausrutschte: die Füße quer setzen und sich von Baum zu Baum hangeln (wie es viele vor mir getan hatten, die Rinde an den Bäumen war glatt und abgewetzt), Schritt für Schritt, der Schweiß rann mir über das Gesicht.

      Ich war nicht allein. Ein Spaziergänger, der hinter mir den Pfad herunterschritt – in China ist man nie allein –, sang schallend ein Lied. Nicht »Der Osten ist rot« (东方红), das einem überall in Peking entgegenschallte, sondern (ich horchte auf): »Dort in der weiten, weiten Ferne, wo ein Mädchen auf mich wartet