Dekadent. Dankmar H. Isleib. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dankmar H. Isleib
Издательство: Bookwire
Серия: münchenMAFIAmord
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969020036
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in Harlaching, blickte auf den kleinen Bach, der sich Fluss nannte, die Isar, und dachte.

      Er dachte einfach. Denken war sein zweites Ich.

      Henry Ford sagte einmal, dass das die schwierigste Arbeit überhaupt sei. Denken.

      Mussorgskovich war sich zu 200 Prozent sicher, dass die Zahl 86401 ein Code war, den er knacken sollte. Das war sein Auftrag. Darauf würde er jede Wette abschließen und auch auf dem Gebiet war er unschlagbar. Fast.

      Wenn da neben der Zockerei nicht noch so manch dunkle Seite wäre.

      Darknet im Kop …!

      Was für ein fieser, fetter, dummer Sack! ‚HaHaHa!‘ Glaubt, besser zu sein als ich.

      Mussorgskovich schüttelte sich. Er fing zu frösteln an. Wie immer, wenn er in geistigem Stress war, zog sich seine Haut zusammen. Am ganzen Körper. Dann sah er aus, wie ein schlecht rasierter Kaktus mit Ganzkörperdreitagebart. Gleichzeitig machte ihn der Gedanke, das Rätsel zu knacken, richtig wepsig. Er wollte, nein, er musste seine Überlegenheit beweisen.

      86401.

      Sein Hobby waren die Primzahlen. Er wusste aus der Studienzeit, dass sich HHH auch damit beschäftigte. Ein Kampf zwischen zwei Nerds?

      Ausgehend von der Annahme, dass es nur endlich viele Primzahlen gibt, lässt sich eine weitere Zahl konstruieren, die eine bisher nicht bekannte Primzahl als Teiler hat oder selbst eine Primzahl ist, was einen Widerspruch zur Annahme darstellt. Somit kann eine endliche Menge niemals alle Primzahlen enthalten, also gibt es unendlich viele. Heute kennt man eine ganze Reihe von Beweisen für den Satz von Euklid.

      Die 86401 passte da nicht hin.

      Das machte Ruben zu schaffen. Was wollte HaHaHa ihm sagen!?

      Rubens Eltern hatten längst mit dem Sohn gebrochen, wie auch seine drei Geschwister. Ruben war das jüngste der vier Kinder, gleichzeitig derjenige, der völlig aus der Art geschlagen war. Sein Vater, gebürtiger Kirgise, ausübender Physiotherapeut, hatte zwar ein Faible für Übersinnliches, wie auch seine Mutter, eine eigentlich sehr bodenständige Bayerin, die dem Vater die Praxis führte und Heilpraktikerin war, aber ihren Jüngsten verstanden sie nicht. In ihren Augen war er krank. Geltungssüchtig, spielsüchtig – schon als Kind. Er daddelte immer nur mit Computerspielen und war seinen Geschwistern, wie den Mitschülern, egal welchen Alters, darin haushoch überlegen.

      Ein Einzelgänger. Braune Haare im Streetstyle à la Jerome Boateng, mit seinen 33 Jahren schon graue Schläfen, Vollbart. Leuchtend blaue Augen, die die Frauen verrückt machten. Ein Blick – sie fielen um und lagen schon auf den Knien und bettelten, von ihm genommen zu werden. Längst hatte er das ultimative System gefunden, um jeden Roulettetisch zu knacken. Aber da war noch ein Geheimnis, das er nie und nimmer preisgeben würde. Dass er auf Fesselspiele stand, pervers veranlagt war und sich durch Münchens Schönheiten vögelte, mit der Kohle nur so um sich schmiss – angeblich alles beim Glücksspiel verdientes Geld –, war nur die Oberfläche. Das Sichtbare an Ruben Mussorgskovich. Das war, so meinten es seine Eltern und Geschwister, schon genug und einfach nur widerwärtig. Mit einem Protz wie ihm wollten sie nichts mehr zu tun haben. Ruben war das völlig gleichgültig. Eigentlich viel schlimmer: Er machte sich über seine Familie lustig. Für ihn waren das alles Versager.

      Sein Handy klingelte.

      Eine Seltenheit.

      Er, Ruben der Große, rief an!

      Wenn es unbedingt nötig sein sollte.

      Nicht andere ihn.

      Ruben war ein einsames Raubtier. Eigentlich völlig ohne Freunde.

      Der Anruf kam von einem seiner neuen Bekannten aus dem DEKADENT-Club. Fuzzy Müllkorn. Einer, der mit Devisengeschäften reich geworden war. Der saß bei der Eröffnungsparty neben ihm. Sie tauschten Visitenkarten aus und Ruben befand, dass der Mann ihm gute Dienste erweisen könnte. Auf seiner – goldgeränderten – Karte stand nur sein Name. Wenn Mussorgskovich gnädig war, schrieb er auf die Rückseite seine Handynummer. So wie bei Müllkorn. Denn er wollte was von dem. Ruben hatte viel Geld, um es über den Fuzzy bei irgendwelchen Fonds anzulegen. Rendite gleichgültig. Andere würden sagen, um es zu waschen, aber das hatte der Mussorgskovich nicht nötig.

       Mir kann keiner was!

      Seine Haltung.

      Arroganz war sein zweiter Vorname.

      In der Beziehung hätte er der Zwillingsbruder von Hiebler sein können.

      Und auch sonst …

      »Haben Sie schon gehört? Der Kracht ist tot. Den hat es auf ganz merkwürdige Weise dahingerafft. Gerade hat mich sein Hausarzt angerufen, mit dem ich seit Jahren zum Segeln gehe. Wir haben eine Yacht in Nizza und ein kleines Boot auf dem Starnberger See, wenn Sie wissen, was ich sagen will. Fürchterlich. Also der Tote. Der soll so ausgesehen haben, wie das Pärchen, das tot im ›Tiberius‹ saß. Haare verloren, Glatze. Am Schreibtisch hat er gesessen. Wie nach einem Infarkt. War es aber nicht. Und mein Segelfreund weiß, wovon er redet!«

      »Kracht? Sagt mir nichts. Kenne ich nicht.«

      Eiskalt und abweisend.

      »Haben Sie heute eigentlich auch eine ominöse SMS erhalten. Ich erhielt nur drei Zahlenfolgen, mit denen ich partout nichts anfangen kann! Kein Absender, nichts!«

      Der Anrufer war nervös, fahrig, und ratterte mit heiserer Stimme drauflos wie ein altes, rostiges Maschinengewehr aus dem Ersten Weltkrieg.

      »Nein«, log Ruben Fuzzy an. Wozu sollte er ihm sagen, dass er von seinem langjährigen Lieblingsfeind eine SMS erhalten hatte, allerdings mit nur einer Zahlenreihe, mit Absender, den er kannte …

      »Was haben Sie denn für Zahlen bekommen, Fuzzy, ich darf doch Fuzzy zu Ihnen sagen?«

      »Klar, Ruben, du warst mir sofort sympathisch«, log Fuzzy Ruben die Hucke voll. Schließlich wollte auch er mit dem Angeber Geschäfte machen und ihn ausnehmen.

      »O.K., gerne, bleiben wir beim „du“, Fuzzy.«

      »In meiner SMS stand 800 - 34 - 86401. Ich dachte, es sei eine Telefonnummer. Habe alles ausprobiert. Noch Nullen on top eingegeben. Vorne, hinten, Mitte, na Sie, eh, du, weißt schon, was ich meine. Egal, was ich auch machte, nichts! Muss was anderes sein. Hast du eine Idee? Man sagt, du seist in Zahlen ein Genie. Wenn du verstehst, was ich meine, Ruben?«

      »Nein, sorry, Fuzzy. Beim besten Willen nicht. Noch nie gehört. Ich kenne die Nummer auch nicht. Wenn es denn ein Telefonanschluss sein sollte. Die Zahlen sagen mir gar nichts. Ja, es könnte irgendwo auf der Welt eine Firma oder so sein. Vergiss es einfach. Da will dich jemand verarschen oder hat an eine falsche Nummer eine SMS geschickt. Das passiert doch.«

      »Das hätte ich auch gedacht, wenn da nicht seit letzter Nacht drei von uns tot wären. Erschreckt dich das nicht, Ruben?«

      Ruben dachte.

      Natürlich hatte er sich sofort die Zahlen aufgeschrieben und erschrak schon während des Schreibens. 86401 war Bestandteil der SMS … Und er dachte schneller als ein Computer. Es machte sofort ‚klick‘ und er fragte:

      »Schau doch mal, wann die SMS bei dir eingegangen ist, ja?«

      »Moment … 12 Uhr 30.«

      Ruben verglich die Zeit mit seinem Handy: Treffer. 12:30. Auch bei Fuzzy Müllkorn.

      »Mhm, nee. Keine Ahnung. Hätte ja sein können, dass da irgendwas, ach, vergiss es. War blöd von mir. Schade, Fuzzy, ich hätte dir gerne geholfen. Ich rufe dich an, wenn ich eine Superidee habe. Wollte mit dir sowieso mal sprechen wegen einer guten Anlage. Ich habe da ein paar Mittel frei. Vielleicht kommen wir ins Geschäft. Du sollst dafür der Beste sein, sagte man gestern im Club.«

      Fuzzy Müllkorn fühlte sich gebauchpinselt. Er ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass auch er in weniger als zwölf Stunden den immer währenden Zyklus des Seins, Samsara, aus anderer Sichtweise betrachten sollte und das DEKADENT nie wieder betreten