Der 32-jährige Hussein-Hiob hatte es tatsächlich geschafft: Sein Vater, Hussein III., Ägypter und vor 33 Jahren als knapp Neunzehnjähriger aus Alexandria nach Deutschland gekommen, arbeitete noch immer am Fließband bei BMW. Den Job bekam er, kaum dass er ein paar Tage in München war. Schon am zweiten Arbeitstag, als er für seinen ersten Hilfsarbeiterposten eingearbeitet wurde, stand plötzlich neben ihm ein Mädchen, in das er sich auf Anhieb verguckte. Liebe auf den ersten Blick oder die Angst vor der Einsamkeit? Er ließ den Schraubenschlüssel fallen und starrte nur noch die Schönheit an, nicht die Hinterachse des 3er BMWs. Das Mädchen, das völlig unerwartet vor ihm stand, brachte ihm einen Fragebogen von der Personalabteilung vorbei, den er ausfüllen sollte. Hussein sprach zwar fließend Französisch, da er in Alexandria auf eine französischsprachige Schule gegangen war und auch recht gut Englisch. Mit dem Deutschen tat er sich mehr als schwer, obwohl er vor seiner Flucht die Sprache des Landes seiner Träume gepaukt hatte.
Leah, so hieß die Kleine mit den langen pechschwarzen Haaren, war Lehrling. Gerade mal 15 Jahre. Sie wollte Sekretärin werden. Auch sie eine Immigrantin, aus Kiew, das zu der Zeit, als ihre Eltern mit ihr nach Deutschland kamen, noch zu Russland gehörte. Hussein lächelte sie an und bat um Hilfe. Sie verabredeten sich nach der Arbeit, um den Fragebogen gemeinsam auszufüllen. Hussein nahm Leah mit auf seine Bude im Olympiapark – da hatte BMW ein paar Zimmer angemietet, die sie neuen Mitarbeitern für die Zeit zur Verfügung stellten, bis sie eine Wohnung gefunden hatten – und fiel sofort über sie her. Frauen und Islam, da verstehen junge Männer oft etwas falsch. Aber Hussein junior hatte Glück. Leah war selig – endlich wurde sie entjungfert und zur richtigen Frau. Auch sie war scharf wie Nachbars Lumpi. Ihre Freundinnen in der Berufsschule, die meist älter waren, erzählten von nichts anderem als vom ‚Bumsen‘ und wie schön das wäre und gebrauchten diesen Begriff immer, wenn sie Leah anmachten, es doch endlich auch mal zu versuchen.
Seit diesem Tag, es waren fast 33 Jahre vergangen, waren Leah und Hussein ein Paar. Sie hatten noch während ihrer Schwangerschaft geheiratet. Denn: Gleich beim ersten Mal hatte es geklappt – Leah, selbst noch ein Kind, erwartete ein Kind. Ganz zur großen Freude ihrer Eltern …! Eine Minderjährige …! Zuerst wurde nach jüdischer Zeremonie geheiratet, dann muslimisch. Alles lief harmonisch ab, Leahs Eltern waren zwar nicht happy, aber extrem tolerant und akzeptierten das junge Paar.
Beide, Hussein und Leah, arbeiteten noch immer bei BMW, liebten ihre Jobs – Hussein als Fließbandarbeiter und Leah als Sekretärin – und lehnten das Angebot ihres einzigen Kindes ab, von ihm, Hussein-Hiob, ausgehalten zu werden. Das war unter ihrer Würde. Ja, sie waren stolz auf ihren Sohn, aber gleichzeitig war es ihnen nicht geheuer, wie man als junger Mann schon so viel Geld auf ehrliche Art und Weise machen konnte. Sie malochten lieber und verdienten ihr Geld mit richtiger, anständiger Arbeit.
Hussein-Hiob ging das völlig am Arsch vorbei.
Er hatte in all den Jahren seiner Kindheit und noch während des Studiums damit zu kämpfen, dass man ihn akzeptierte. Seine Hautfarbe war für einen deutschen Mann zu dunkel; die braunen, stechenden Augen zu schräg, zu asiatisch und zu direkt, die Hände zu ‚weibisch‘, wie man es ungalant in Bayern nannte, nur weil sie zart, lang und schmal waren. Die einen empfanden seinen durchdringenden Blick, für den er gar nichts konnte, als aufdringlich. Stechend-widerlich die anderen.
Hussein-Hiob hatte einen großen Hass auf seine Eltern, darauf, dass sie ihn gezeugt hatten. Prahlen konnte man ohnehin mit ihnen nicht und schließlich waren die schuld, dass er so aussah, wie er aussah. Warum mussten die ein Kind kriegen! Vögeln, ja. Das machte er selber ausgiebig und so gut wie täglich. Er benutzte die Frauen, egal wie schön, jung oder alt sie waren. Er war sich bewusst, dass sie letztlich seine Millionen vögelten, nicht ihn. Eine war anders. Sie liebte ihn, sagte sie immer. Aber das war HHH egal. Er bemerkte es nicht mal. Das Gesülze war ihm lästig. Um so einen Scheiß konnte er sich nicht kümmern.
Liebe.
Während des Studiums des Mathematical Engineerings an der Uni der Bundeswehr gab es nur wenig Frauen. Die schauten durch ihn durch. Beachteten ihn nicht. Sie hatten schnell mitbekommen, dass der Hussein-Hiob ein weinerlicher, wahnsinnig aggressiver Typ war. Lief irgendetwas, und sei es die kleinste Kleinigkeit, nicht nach seiner Vorstellung, seinem Willen ab, wurde er jähzornig. Extrem jähzornig und sah dann aus wie ein zerplatzender, knallroter Luftballon. Dazu sein Gang. Der war einfach nur lächerlich. HaHaHa lief wie ein frisch aufgezogener, mechanisch und recht plump arbeitender Roboter der ersten Versuchsreihen, die nach siebzehn mühseligen Schritten bei der kleinsten Unebenheit umfielen.
Eckig, kantig, klobig, unbeholfen, unmusisch.
Das törnte die wenigen Studentinnen der Uni ab.
Wenn der sich auch so beim Ficken anstellt – na denn Prost Mahlzeit. Da kannste nur flüchten! – das war die einhellige Meinung der Damenwelt.
Aber es sprach sich ebenso schnell rum, dass ‚HaHaHa, der Aufgezogene‘, was in der Birne hatte. Ein Rechengenie. In dieser Hinsicht kam in München-Neubiberg Bewunderung auf. Natürlich nur hinter vorgehaltener Hand, von verschämtem Gekicher begleitet, denn Neid gehört zum Leben.
Zahlen hatten es ihm angetan.
Alles, was es an Literatur zu Zahlen und ihrer Bedeutung gab, hatte er schon während der Zeit auf dem Gymnasium verschlungen. Er ließ nicht locker, sich auf diesem Gebiet weiterzubilden. So war ihm die kosmische Bedeutung der Zahl 1 bestens bekannt.
Dynamik und Kraft.
Das steht für die 1. Und die 11 ist gewissermaßen der Gegenpol. Ying und Yang. Diese Zahl erfordert hohe Aufmerksamkeit. Sie kann Kräfte ins Positive wie ins Negative umwandeln. Anders ist es mit der 111. Sie ist mit ungemeiner Power geladen. Wenn man die kosmische Zahl richtig nutzt, ist man der King des Universums. Zumindest aber Münchens.
Also stand für ihn fest, dass es nicht mehr und nicht weniger als 111 Mitglieder im geheimen Club der Reichen Münchens geben dürfte.
Damit sie, die Mitglieder, über ungebremste Macht verfügen würden. Die er an der Spitze des DEKADENT zu übernehmen gedachte …
Ob das seinen Club-Brüdern im DEKADENT bewusst war, interessierte ihn nicht.
Manipulation.
Darum ging es ihm.
9/11.
Er hatte die Zahlen des Ereignisses in New York genauestens studiert.
Die Basis war letztlich die 11. Was hatte sie für Unheil angerichtet!
Das begeisterte den zahlenperversen Herrn Hiebler.
Gott spielen.
Die Kabbala nutzen.
HHH war total einseitig gebildet. Alles in seinem Leben übersetzte er in Zahlen, handelte nach ihnen. So, wie die Schöpfung es vorbestimmt hatte. Es war kein Zufall, dass es im Saal ›Romulus‹ 66 Plätze gab, im Raum ›Tiberius‹ 12 Plätze, die die Gegenspieler zu den zwölf Aposteln darstellen sollten, von denen zwei teuflisch besetzt waren, ein weiteres Zimmer, ›Caesar‹, 13 Sessel hatte.
13 – im deutschen Volksmund keine Glückszahl. In anderen Regionen schon. Die Thora Gottes erwähnt 13 Attribute der Gnade. Im Sikhismus wird die Gründung der Khalsa am 13. April gefeiert. Im Hinduismus wird 13 Tage nach einem Todesfall ein Festschmaus (Tehranvi) organisiert, um dem Verstorbenen ewigen Frieden zu geben. Die Colgate Universität, USA, hält die Zahl 13 für eine Glückszahl, weil die Universität von 13 Männern mit 13 Dollar, 13 Gebeten und 13 Berichten gegründet wurde. Die Universität befindet sich auf dem Oak Drive Nummer 13. Für die Mitglieder der Universität ist alles, was mit der 13 zusammenhängt, ein gutes Omen. Auch in Italien hält man die 13 für eine Glückszahl.
Für Hiebler waren es die zwölf Apostel: Simon Petrus, Andreas, Jacobus der Sohn des Zebedäus, Johannes, Philippus, Bartholomäus, Thomas, Matthäus, Jakobus der Sohn Alphäus, Thaddäus, Simon und Judas. Ein weiterer Sessel war für ein geheimnisvolles Wesen reserviert.