Es wundert deshalb nicht, dass von über 100 Hausärzten in der Region in den nächsten 5 Jahren die Hälfte altersbedingt ausscheiden wird. Nachwuchs bleibt aus. Von 100 Medizinstudierenden träumt vielleicht einer von einer Einzelpraxis in einer ländlichen Region. Um die Zukunft der kleinen und mittleren Krankenhäuser in solchen Regionen ist es nicht besser bestellt. Trotz geschickter und umsichtiger kaufmännischer Geschäftsführung schreiben sie rote Zahlen. Die Behandlung von Fällen wie dem der alten Dame rechnet sich im DRG-System nicht.
Wie sieht die Zukunft vor Ort dann aus? Eine rein telemedizinische Versorgung? Eine Arztpraxis ohne Arzt, bedient durch ein Call-Center aus Bangalore, unternehmerisch geleitet von einem deutschen Krankenhauskonzern? Rezepte, die vom Call Center elektronisch ausgestellt und Medikamente, die im Schließfach bei der örtlichen Sparkasse wie bei einer DHL Packstation abgeholt werden? Falls die alte Dame ein Tablet bedienen kann, erklärt ein freundlicher, sogar schwäbisch sprechender junger Arzt über das Internet, wie sie die Medikamente einnehmen muss und bei welchen Anzeichen von Veränderung sie das Call-Center anrufen soll? Informationen über individuell zu erwartende Nebenwirkungen finden sich nach Auslesen des QR-Codes in einem gesicherten Video-Kanal, sowie Tipps der Digitalapotheke für naturheilkundlich basierte Nahrungsergänzung? Ist das die Integrative Medizin der Zukunft auf dem Land in der realen betriebswirtschaftlichen Umsetzung des zukünftigen Gesundheitssystems (Azzopardi-Muscat 2019; Blandford 2018; Gordon et al. 2020)?
7.2 Integrierte Medizin in der hausärztlichen Praxis auf dem Land: Utopie oder Chance auf Umsetzung?
Das Academic Consortium for Integrative Medicine and Health (www.imconsortium.org) definiert Integrative Medizin wie folgt:
„Integrative Medicine […] reaffirms the importance of the relationship between practitioner and patient, focuses on the whole person, is informed by evidence, and makes use of all appropriate therapeutic and lifestyle approaches, healthcare professionals and disciplines to achieve optimal health and healing.“
Wie könnte eine Versorgung der Zukunft aussehen, die im Dorf der alten Dame im Nordschwarzwald diesen Anspruch umsetzt, aber zugleich den Makrotrend der Digitalisierung, der Abwendung junger Ärzte vom Lebensmodell der hausärztlichen Einzelpraxis auf dem Land und den Wunsch nach vielen Fachberufen im Gesundheitswesen nach stärkerer Integration, Verantwortung und fachlicher Kompetenz aufgreift?
Nach dem Zweiten Weltkrieg – Digitalisierung, DRG und digitale Gesundheitsanwendungen noch unvorstellbar weit in der Zukunft – bot eine von einem meist männlichen Inhaber geführte Einzelpraxis auf dem Land ein vielversprechendes, attraktives Arbeits- und Lebensumfeld für junge Ärzte und deren Familien. Häufig konnte die Lebenspartnerin in die Gestaltung und Führung der Praxis einbezogen werden. Die Vergütungssysteme boten ein gutes Auskommen, neben Bürgermeister, Pfarrer und Schuldirektor war der Arzt im Dorf eine sozial hoch geachtete Respektsperson. Die Notizen erfolgten mangels PC in der händisch geführten Akte. Die Basis war die gelehrte Schulmedizin, allerdings in hoher individueller ärztlicher Variabilität und Auslegung. Der frühere Hausarzt der Mutter der alten Dame kannte die Familie, hatte eine innere Repräsentation der Gestalt der Erkrankungsgeschichten aller Beteiligten, wusste um den individuellen sozialen Kontext und seine Wechselbeziehungen in der Gemeinde.
Doch die Rahmenbedingungen sind zwei Generationen später grundsätzlich andere geworden und vielfach ausführlich und hinlänglich beschrieben. Junge Menschen wünschen sich heute Gleichberechtigung in Beruf und Familie und benötigen entsprechende infrastrukturelle Unterstützung um zwei Berufe, Familie und soziales Leben miteinander vereinbaren zu können. Junge Ärztinnen und Ärzte zeigen zudem wenig Interesse an der unternehmerischen Verantwortung in der klassischen Einzelpraxis in der heute viel stärker regulierten Versorgungsrealität. Dazu bedürfen heutige Patienten aufgrund der demografischen Veränderungen und der damit verbundenen komplexeren Erkrankungsmuster ein erhöhtes Maß an Betreuung und Fürsorge. In viel stärkerem Maße müssen andere nicht-ärztliche Ressourcen der Zivilgesellschaft miteinbezogen werden (Machta 2019; Annis et al. 2016; Coombs et al. 2011). Darüber hinaus sind komplementäre Behandlungsansätze weiterhin in der Bevölkerung erwünscht, nachgefragt und akzeptiert. Ob die universitäre Schulmedizin das als Habakuk abtut, sich vorsichtig öffnet oder wie in den USA Institute und Lehrstühle einrichtet, welche das Zusammenwirken von klassischer Schulmedizin und ergänzenden „alternativen“ Heilmethoden systematisch untersuchen – die alte Dame im Dorf im Nordschwarzwald kümmert das wenig. Sie sucht für bestimmte Anliegen wie etwa ihr periodisch wiederkehrendes quälendes Hautjucken oder ihren Abgeschiedenheitskummer an Novembertagen schon immer die Tochter des früheren Handauflegers auf, ihre Heilpraktikerin. Die hört geduldig zu und nimmt sich Zeit.
Kann Integrierte Medizin oder Patientenzentrierte Medizin hier einen Zukunftsweg weisen – oder sind das nur neue Worthülsen für alte Schläuche (Esch u. Brinkhaus 2020; McMillan et al. 2013)? Aus der Perspektive des ländlichen Raums ist der Mangel an Hausärzten das Problem – ob Integrierte Medizin oder einfach nur schulmedizinische Grundversorgung ist zunächst nachrangig. Wird die Herausforderung über eine Hausarztquote mit Verpflichtung zu lösen sein? Oder besser über innovative neue Versorgungsmodelle in multiprofessionellen Teams (Coombs et al. 2011; Chiang et al. 2018; Everett et al. 2016; Society of Teachers of Family Medicine 2012)? Wir an der Medizinischen Fakultät Mannheim haben uns für den zweiten Weg entschieden, und gemeinsam mit Studierenden, Patientenvertretern, nicht-ärztlichen Fachkräften ein Konzept für eine Neugestaltung einer patientenzentrierten, primärärztlichen Versorgung im ländlichen Raum entworfen. Ob sich das Konzept mit dem sperrigen Titel „Ambulante Integrierte Gesundheitszentren zur Optimierung der ärztlichen Versorgung und Pflege im ländlichen Raum“, aber griffigeren Kürzel AMBIGOAL tatsächlich in die Praxis wird umsetzen lassen, ist noch offen. Ein ganzes Bündel an Fragen soll in den nächsten zwei Jahren geklärt und in praktische, auch betriebswirtschaftlich nachhaltige Prozesse übersetzt werden. Im Kern orientiert sich das Vorhaben an den Grundideen der Person- and People-centered Integrated Care (PPCIC). Die Grundidee von AMBIGOAL ist die Zusammenarbeit von Ärzten und (auch akademisch) weitergebildeten medizinischen Fachpersonen in einem Team rund um die Anliegen des Patienten und unter Nutzung digitaler Lösungen im Gesundheitswesen zur Unterstützung der Prozesse.
Im Vordergrund steht die Entwicklung neuer Prozessabläufe, welche die horizontale Integration mit anderen Beteiligten in der Kommune aber auch in der Familie und im Kreis der Angehörigen einschließt – von Pflege bis hin zu zivilgesellschaftlichen Ressourcen wie des bürgerlichen Engagements (Machta 2019; McMillan et al. 2013; Larson u. Frogner 2019; Park et al. 2018; Rathert et al. 2013; van Vught et al. 2014). Die Grundidee ist ein Primärversorgungszentrum in dem Ärzte Teile ihrer heutigen Aufgaben an entsprechend qualifizierte nicht-ärztliche Fachberufe delegieren (z.B. Hausbesuch bei chronisch kranken Patienten) und vor allem bei komplexen Situationen, in denen Versorgung, Unterstützung und Gesundheitsförderung sowie soziale Aspekte bedeutsam sind, die horizontale Vernetzung mit anderen in der Kommune vorhandenen Ressourcen zu schaffen – von Pflegedienst über Sozialstation bis zu nachbarschaftlicher Hilfe. Vorbilder dafür gibt es in Deutschland, nur die Finanzierung ist bislang nicht gelöst. Der zweite Pfeiler betrifft die vertikale Vernetzung, d.h. das Einbinden spezialisierter Versorgung, seien es Fachärzte, regionale Krankenhäuser bis hin zu universitärer Spitzenmedizin. Digitalisierung ermöglicht, dass vieles, das früher eine Reise des Patienten zum Ort des Spezialwissens erforderte, heute digital im Primärversorgungszentrum angebunden werden kann.
Das Konzept muss von vornherein zwei sich diametral widersprechende Trends berücksichtigen: Einerseits werden in der näheren Zukunft nur etwa die Hälfte der heutigen ärztlichen Versorgungsstunden für den persönlichen Kontakt in einer ländlichen Region zur Verfügung stehen, andererseits erwarten Patienten und Betroffene eine intensivere direkte persönlichen Zuwendung