Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es bei der Realisierung der interprofessionellen Zusammenarbeit vor allem darum geht, den Bedarf der Bevölkerung bzw. der einzelnen Patientin oder des einzelnen Patienten an erste Stelle zu setzen, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen und Vorurteile beiseite zu legen. Der Mangel an Primärversorgern und die Herausforderungen bei der Bewältigung chronischer, komplexer Krankheiten sind ausgezeichnete Möglichkeiten für die Gesundheitsberufe, einzigartige Fähigkeiten in kooperativen Umgebungen einzubringen (Green u. Johnson 2005).
6.2 Interprofessionalität und Integrative Medizin
Obwohl sowohl die Interprofessionalität als auch die Integrative Medizin das gleiche Ziel verfolgen und in den letzten Jahren deutlich vorangetrieben wurden, sind sie ganz unterschiedliche Forschungsgebiete geblieben und es bestehen bislang wenige Überschneidungspunkte. Diese Trennung könnte darauf zurückzuführen sein, dass sich die interprofessionelle Zusammenarbeit mit der Integration innerhalb des allgemeinen Paradigmas der Biomedizin befasst, während sich die Integrative Medizin mit der Integration zwischen Paradigmen befasst (Hollenberg u. Bourgeault 2011). Auf wissenschaftlicher Ebene wurden die Diskurse bislang durch unterschiedliche Fachgremien und -gesellschaften geführt. Während die Interprofessionalität eher in Bezug auf die berufliche Qualifikation mit Vertretern aus Erziehungs-, Gesundheitswissenschaften und Public Health diskutiert wird, fokussiert sich der Diskurs um die Integrative Medizin auf die evidenzbasierte Versorgung innerhalb der Humanmedizin, hier insbesondere innerhalb der Allgemein- und Familienmedizin. Auf der Versorgungsebene geht es bei der Interprofessionalität um die Zuschreibung der jeweiligen Rollenidentität und der daraus resultierenden Geltungsansprüche. In einem kommunikativen Aushandlungsprozess wird eine Verständigung über bestehende Situationen und den sich daraus ergebenden Handlungsmöglichkeiten hergestellt. Die Kommunikation erfolgt in der Regel auf der Metaebene. Dabei nimmt die Interprofessionalität die Interaktion gleichberechtigter Akteure in den Blick und stellt Fragen hinsichtlich der jeweiligen Fachkompetenzen, Einstellungen und Haltungen. Interprofessionalität wird insgesamt als ein kontinuierlicher, dynamischer, interaktiver, transformierender und zwischenmenschlicher Prozess angesehen, der durch kollektive Intervention gekennzeichnet ist (D’Amour u. Oandasan 2005). Die Interprofessionalität wird durch Pioniere vorangetrieben, die berufliche Grenzen überschreiten, um die Patientenversorgung zu verbessern.
Innerhalb der Integrativen Medizin werden eher inhaltliche Fragen nach Therapie- und Behandlungsoptionen gestellt. Sie weist eine stärke Orientierung an der normativen Realität auf. Die Beziehungen zum Patienten sind hinsichtlich der medizinischen Fachexpertise durch ein hierarchisches Gefälle gekennzeichnet. Hier wird mehr als bei der Interprofessionalität, ein bestimmtes Fachwissen vorausgesetzt. Durch den Heilungsauftrag in der Medizin entsteht ein Handlungsdruck (Lanzerath 2000), dem sich auch die Integrative Medizin nicht entziehen darf und kann. Aus handlungstheoretischer Perspektive ist die Kommunikation strategisch instrumentell auf das Erreichen dieses Handlungsziels ausgerichtet. Die Integrative Medizin wird durch Pioniere vorangetrieben, die neue Wissensinhalte zur Sprache bringen und über inhaltliche Übereinkünfte Relevanz erfahren. Es stellen sich Fragen der Wissenschaftlichkeit, nach Entscheidungen, die getroffen und begründet werden müssen und Konsequenzen, die im Blick behalten werden.
Interprofessionalität und Integrative Medizin sind somit zwei Konzepte, die in unterschiedlichen wissenschaftlichen Domänen diskutiert und auf unterschiedlichen Handlungsebenen zu verorten sind. Das heißt aber auch, dass diese Konzepte komplementär miteinander verknüpft werden können, ohne dass ein Bereich seinen Geltungsanspruch verliert. Strategien zum Aufbau von integrativmedizinischer Versorgung legen eine interprofessionelle Umsetzung nahe, da sowohl in der komplementären als auch konventionellen Medizin ein Mosaik aus verschiedenen Perspektiven besteht (Witt et al. 2015) bzw. ein kollaborativer Teamansatz zugrunde liegt, bei dem die Gesundheitsdienstleister auch synergistisch und interdependent mit gegenseitigen Vertrauen, Respekt und Wertschätzung für die Fähigkeiten anderer Berufe arbeiten, um die Patientenversorgung zu steuern (Boon et al. 2004). Für die Integrative Medizin können Konzepte der interprofessionellen und teambasierten Versorgung uneingeschränkt übernommen werden. Die Academic Collaborative for Integrative Health (ACIH) überprüfte in der Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und Praktikern aus fünf Disziplinen (Chiropraktik, Naturheilverfahren, Massagetherapie, Akupunktur und Orientalmedizin, Hebammen) die IPEC-Kompetenzen und übernahm diese vollständig; folgende zwei weitere spezifische Kompetenzbereiche wurden hinzugefügt:
1. Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung und evidenzinformierte Praxis: Das Erklären, Bewerten und Anwenden von wissenschaftlichen Erkenntnissen in der integrierten Gesundheitsversorgung und die patienteninformierte Entscheidungsfindung unter Berücksichtigung der beruflichen Erfahrung und der Patientenpräferenzen.
2. Kultur und Praxis der institutionellen Gesundheitsversorgung: Die Qualifikation von Praktizierenden, die nicht vorrangig in konventionellen akademischen stationären und ambulanten Versorgungskontexten ausgebildet wurden, um diese auf die Arbeit in den entsprechenden Einrichtungen und Versorgungssystemen vorzubereiten (ACIH 2018).
Das evidenzbasierte Arbeiten im ursprünglichen Sinn nach Sackett et al. (1996) steht für eine professionelle patientenzentrierte Versorgung schlechthin. Es legitimiert Verfahren sowohl der komplementären Medizin als auch professionsspezifische Behandlungsprozesse der Pflege- und Therapieberufe, die sich aufgrund langbestehender positiver Erfahrungen in der Gesundheitsversorgung etabliert haben, auch wenn dazu die rein wissenschaftliche Evidenz (noch) nicht vorliegt. Eine größere Herausforderung dürfte der zweite Kompetenzbereich darstellen, der dazu auffordert, Leistungserbringer ohne geregelte Ausbildung wie Heilpraktiker oder traditionelle Heiler in den Versorgungsprozess einzubinden. Hier stellen neben den unterschiedlichen Bildungsträgern auch die teilweise unterschiedlichen Finanzierungssysteme eine Barriere dar. Das Phänomen, dass Patienten häufig die Konsultation von solchen alternativen Anbietern nicht gegenüber den professionellen thematisieren, führt zu unkoordinierten Anwendungen, die sowohl die Patientensicherheit, als auch den Behandlungserfolg gefährden können (Foley et al. 2019). Hier müssen langfristig Lösungen und Wege gefunden werden, um alle Leistungserbringer entsprechend zu qualifizieren und in die Versorgungsstrukturen einzubinden. In interprofessionellen Konzepten werden bislang fast ausschließlich Berufe eingebunden, die regulär ausgebildet werden und sich innerhalb des biomedizinischen Paradigmas bewegen. Die Zusammenarbeit über bestehende Gesundheitsparadigmen hinweg stellt hohe Anforderungen an die Kommunikation der beteiligten Akteure (Coulter 2004). Bei einer frühzeitigen Sensibilisierung und Ausbildung aller an der Versorgung beteiligten auf Basis der sechs ACTH/IPCE-Kompetenzbereiche könnten sich hier neue Perspektiven eröffnen.
„Times are changing, silos are falling, national health burdens are being shared, and it is going to take much more than a single practitioner or paradigm to solve the serious health care issues confronting humanity today and in the future. Through collaboration, we can work together for a better future.“ (Green u. Johnson 2015)
6.3 Best-Practice-Beispiele
6.3.1 Interprofessionelle Zusammenarbeit im Rahmen der Mind Body Medicine – Erfahrungen aus der Schweiz
Im rehabilitativen und onkologischen Versorgungsbereich sind vielerorts bereits interprofessionelle Versorgungskonzepte unter Einbindung komplementärer Verfahren etabliert. Die gute Zusammenarbeit im interprofessionellen Team ist für die gelungene Umsetzung der Mind Body Medicine, insbesondere im Gruppensetting, eine wichtige Voraussetzung. Am Institut für komplementäre und Integrative Medizin des Universitätsspitals Zürich werden dabei verschiedene Professionen einbezogen (Psychologen/-innen, Ärzte/-innen, Ernährungswissenschaftler/-innen und Pflege). Eine Kommunikation auf Augenhöhe, das Ansprechen von Konflikten, sowie die gemeinsame Übernahme von Entscheidungen sind dabei wichtige Kompetenzen innerhalb des Teams; denn auch wenn die im Team vertretenen Professionen unterschiedliche Expertise für die spezifischen Themen (z.B. Ernährung) haben, sprechen die Patientinnen und Patienten ihr Thema auch in anderen Themenblöcken