Ein fremder Strand umgab sie endlich, so weit war sie gelaufen. Sie kehrte um, jetzt breitete sich über die Bucht das Morgenrot, eine von innen bunt erleuchtete Wolkenwand. Dagegen schwarz hingestellt, erblickte sie in der Ferne etwas, das vorher noch nicht dagewesen war, etwas Schweres, Massiges und Hartes, wer hatte es so schnell auf den Strand getragen? Trotz ihrem fieberhaften Denken wußte sie im Grunde, daß es ein Mensch war. Sie hielt an.
Der Mensch war der einzige weit und breit, und er stand reglos der See zugewendet. Marie bestaunte seinen Rücken, der mächtigste Rücken, den sie je gesehen hatte. Er aber drehte sich – drehte sich langsam ihr zu, er wußte, daß sie da war! Sofort erstarrte sie; dem Mann dort war bekannt, wo sie die Nacht gewesen war! Dort wartete er, sie mußte an ihm vorbei, sie entging ihm nicht. Die Düne hinauf und flüchten? Schwer wie er war, es blieb dennoch sicher, daß er noch vor ihr droben anlangte und sie abfing. Sie setzte den Fuß an, sie mußte auf ihn zu, so sehr ihr Herz auch klopfte. Der Mensch war unausweichlich, und er sah ihr entgegen, jetzt noch aus der Entfernung. Aber sie sollte, mit stockenden Füßen, den ganzen Abstand durchmessen.
Die Gestalt wurde nur größer. Sie trug einen runden Hut und einen riesigen dicken Mantel, alles schwarz. Wie dick war der Mantel, daß der Morgenwind ihn gar nicht bewegte! Endlich erkannte sie auch die Farbe seines Gesichts. Bisher nur ein Stück Schatten, hellte es sich während ihres Näherkommens auf und wurde grau, massig und steingrau. Jetzt war sie auf seiner Höhe, verlangsamte noch mehr ihren Schritt und suchte seine Augen – fand sie aber geschlossen. Offen oder geschlossen, sie folgten ihr, die Augen des ungeheuren Fremden hatten sie durchschaut!
Erst als sie an ihm vorbei war, wagte sie es, sich hinter die Düne zu ducken und gebückt davonzuhasten. Wenn er sie gerufen hätte, sie wäre umgekehrt und hätte alles gestanden.
An dieser Begegnung zerschlug sich ihre Versuchung. Der Gedanke, der sie wochenlang besessen gehalten hatte, fiel ohne weiteres ab. Sie vergaß sogar Boldt, sein Haus und den Brand, den sie hatte legen wollen. Im Herbst, Marie war grade vierzehn geworden und eingesegnet, kam dann das Hochwasser, jenes unvergessene, von dem Warmsdorf sich jahrelang nicht erholt hat.
Wirklich und wahrhaftig trat ein, was sie in den ersten Ängsten ihres Lebens, als kleines Kind des Nachts in ihrem Bett vorausgeahnt hatte. Donnernd rollt die See heran, jeder Anlauf türmt ihre Wassermassen höher, und beim nächsten, beim nächsten verschlingen die Wellen den Katen, worin Marie schläft! Als es in Wirklichkeit geschah, schlief sie denn auch fest und ahnungslos. Sie erwachte von heftigen Schlägen an den Fensterladen, das war die Warnung.
Der Vater schlief weiter, er hatte getrunken; aber die Mutter stieß die Tür auf, alle ihre Kraft war nötig gegen den Sturm, der die Tür zudrückte. Der Sturm wütete und Gestalten kämpften sich hindurch. Mehrere trugen Laternen, Fischerfrauen waren zu erkennen; schon durch Wasser steigend in hohen Stiefeln aus Hirschleder, retteten sie ihre Kinder das Bollwerk hinauf und über die Promenade. Mutter Lehning trieb die Ihren zusammen, da drang die See auch schon in den Katen. Was noch folgte, begriff Marie nur wie einen Traum des Entsetzens. Sie wußte nachher nichts weiter, als daß sie mit ihren Geschwistern das Bollwerk soeben hinter sich gelassen hatte, da stürzte es ein. Auf den finster fahlen Fluten sah sie etwas treiben, den Katen, sein Strohdach, und droben liegend, angeklammert, ihren Vater.
Von der Promenade krochen sie auf Händen und Füßen höher und in die Tannen hinein. Kaum daß sie sich vom Erdboden aufrichteten, zerbrach die Promenade wie ein Brett und wurde hinabgeschwemmt. Marie, ihre Brüder und Schwestern hielten sich in den nächtlichen Tannen, alle im Kreis aneinander fest, die Tannen sausten, bogen sich und fielen um. Zu dem verlorenen Häuflein der Kinder stieß die Mutter, sie schrie gegen den Sturm:
»Vadder is versoppen!«
Mutter und Kinder erreichten, ohne von den Tannen erschlagen zu werden, das Diakonissenheim, das gleich drüben an der Straße stand. Sie wurden aufgenommen. Am Morgen neigte sich über die erwachende Marie eine Diakonissin und sprach zu ihr – Trost, Ermahnung, aber Marie verstand sie nicht. Sie hörte nur den einen Satz, den sie nicht wieder vergaß:
»Jetzt bist du kein Kind mehr.«
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.