Ein ernstes Leben. Heinrich Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726885712
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weinte sie. »Blarrmarie!« riefen ihre kleinen Geschwister.

      »Das schöne Geld!« stöhnte ihre Mutter.

      Marie hatte eine Eingebung. »Von Antje krieg ich viel mehr!« verkündete sie. Da wurde es still im Katen.

      »Ist das auch wahr?« fragte die Mutter schließlich. Marie riß die Augen auf und sah sie starr an.

      »Antje hat mich eingeladen. Sie will mich in ihre Zucht nehmen, sagte sie.«

      Mutter Lehning überlegte. Vater Lehning äußerte sich dahin, daß es mit den beiden Badegästen ohnehin gleich aus sein werde wegen des Endes der Schulferien. Darauf knurrte die Mutter nur noch.

      Marie wartete weiter, daß Antje ihr ein Zeichen gäbe. Inzwischen verschwanden vom Strande alle größeren Kinder, und auch Meiers reisten. Marie erfuhr davon erst, als sie in die Villa kam, um die Geschwister abzuholen. Sie rannte nach dem Bahnhof. Die Familie stand umringt von anderen Herrschaften, diese noch in Strandkleidern. Frau Meier und Vicki waren beladen mit Blumen. Marie, im Abstand von allen, ersehnte ihren Augenblick. In sich fühlte sie einen ungeahnten Antrieb, den beiden Geschwistern um den Hals zu fallen. Nicht nur die Hand geben! Sie wußten doch, wie schön das alles gewesen war, wie schön, wie schön!

      Sah denn niemand sie? Richtig, Kurt machte sich aus dem Kreise los, er näherte sich Marie.

      »Na, Wiedersehen!« Er schnitt eine Fratze. »Wenn ich noch mal in dies Kaff komme.«

      Plötzlich gab er Marie einen Kuß. »Hübsch bist du«, erklärte er. »Weine nicht schon wieder! Wer weint denn noch? Soll ich dir etwas raten? Übe dich, wie man ein Bein stellt!«

      Er wurde gerufen, die Familie stieg ein, die Tür fiel zu. Im Augenblick der Abfahrt winkten Frau Meier und die Geschwister allen zu. Marie winkte zurück, im Eifer lief sie, ihr Tuch schwingend, dem Zuge nach. Vicki und Kurt lachten. Wie auf Verabredung streckten beide ihr die Zunge heraus. Marie hielt an im Lauf. Bevor sie selbst es wußte, zeigte auch sie ihnen die Zunge.

      Das Zeichen von Köhns Balkon herunter blieb noch immer aus. Aber Antje, die jetzt in zahlreicher Gesellschaft badete, rief eines Tages laut schallend ihre Schwester herbei. Marie hatte nur eine Badehose an, es war ihr nicht gleich anzusehen, daß sie zu den Ärmsten gehörte. Aber Antje verkündete es laut.

      »Meine Schwester – was sagt ihr? Die ist bis jetzt noch in dem Katen, wo ich auch her bin. Aber die bleibt ebensowenig drin, dafür ist gesorgt. Seht euch die Beine an! Na? Die werden wie meine berühmten Beine. Das Lehningsche Gesicht hat sie auch, schöne Zähne, wie? Die bringen Glück.«

      Sie watete schon, den Herren voran, in die See, da fiel ihr endlich ein, was sie versprochen hatte.

      »Du wolltest mich doch besuchen, Marie!« rief sie zurück. »Komm heute zum Kaffee! G.P. Tietgen tut dir nichts.«

      Weil alle es gehört hatten, konnte G.P. Tietgen nicht viel machen, sondern er lachte. An demselben Nachmittag ging Marie in Köhns Hotel.

      Der Portier ließ sie ohne weiteres durch, sie hätte es nicht für so einfach gehalten. Ihre Schwester lag auf dem Sofa und spielte mit einer großen Puppe.

      »Schmeiß mal die Tür zu!« verlangte sie. G. P. Tietgen soll es nur hören. Er hat Geschichten gemacht euretwegen, und weil ich ihn hierher verschleppt habe. Manchmal ist es nicht auszuhalten.«

      Marie verlor kein Wort aller dieser Offenbarungen und Rätsel.

      »Nimm dir Kaffee! Oder nein, du willst natürlich Schokolade. Bestellen wir auch noch. Du kannst alles haben, bei mir ist es gut und reichlich. Dabei pfeif ich auf das Ganze. Was meinst du, soll ich wieder hierbleiben? Du siehst doch so vernünftig aus, rede mal!«

      Marie atmete kaum, viel weniger sprach sie.

      »Ich habe unsere Schwester Frieda gesehen«, sagte Antje. »Sie mich auch. Aber viel Zeit hatte sie für mich nicht übrig in ihrem Schlächterladen. Sie fährt nach Lübeck und kauft Konserven ein für ihren Chef, das kann man eine Vertrauensstellung nennen. Außerdem ist sie richtig verlobt und sogar mit einem Kaufmann! G.P. Tietgen ist auch Kaufmann.«

      Marie hörte nichts mehr. Antje hatte auf ihrem Sofakissen das Gesicht der Wand zugekehrt. Als sie wieder anfing, klagte sie wie ein Kind.

      »Unsere Schwester Frieda macht den Lehnings Ehre. Der wird Mama nicht solche Sachen an den Kopf werfen wie neulich mir. Mit ihrem Mann wird sie ein kleines Geschäft aufmachen, zuerst noch ganz klein. Alle werden sie hochachten. Niemand wird ihr zumuten, daß sie die Familie unterhält, und ihr mit Brodten und dem Armenhaus drohen.«

      Marie ertrug die klagende Stimme nicht länger, sie brach in heftiges Weinen aus. Auch Antje vergoß Tränen, sie schluchzte in das seidene Kostüm der großen Puppe hinein. Schließlich setzte sie sich auf und sah Marie an, – sie hatte ein anderes Gesicht als sonst, oder wollte doch ein anderes haben, Marie erkannte die Anstrengung.

      »Soll ich dir etwas raten, Marie? Bleibe lieber solide! Du hast noch Zeit, solange kannst du aufpassen, wer weiterkommt, ich oder Frieda.«

      »Ja«, sagte Marie gehorsam.

      »Jetzt iß mal den Kuchen auf!« Marie tat es. »Du könntest Schneiderin werden. Damit ist immer etwas zu machen, und was die uns für ein Geld abnehmen! Verstehst du schon etwas von Kleidern? Ich will dir meine zeigen.«

      Sie sprang auf, der Schmerz war fort. Sie trug alles zusammen, was sie besaß, Marie wurde eingeweiht in die höchsten Dinge. Sie wagte nicht einmal mit ihrer Hand daran zu rühren, aber Antje zog ihr ein Kleid über. Natürlich paßte es nicht, dennoch zeigte der große Spiegel eine Marie, wie diese Welt sie noch nie erblickt hatte. Antje stellte ihr Grammophon ein und tanzte mit Marie.

      »Du kommst bald wieder. Das Kleid könntest du eigentlich behalten. Nein, lieber doch nicht, ich brauche es noch. Dafür kriegst du die Puppe! Wiedersehen, Marie! Ein Abendkleid erwarte ich noch aus Hamburg, ich zeig es dir dann.«

      Marie war heraus aus Köhns Hotel, und im Arm hielt sie einen langen Clown, grüne Seide und Mehlgesicht. Etwas betäubt dachte sie: ›Antje wollte mich in ihre Zucht nehmen! Zu Mama habe ich gesagt, was Antje mir alles geben wird!‹ Sie fand nur schwer nach Haus, vorher hatte sie sich ausgedacht, was sie vorbringen wollte. Antje hätte versprochen, sie Schneidern lernen zu lassen! Darauf blieben wirklich alle harten Worte ihrer Mutter aus. Ihre kleinen Geschwister bewunderten den Clown, während Marie im stillen wiederholte: ›Das nächste Mal bitte ich sie, daß sie mich Schneidern lernen läßt, dann tut sie es.‹

      Als es schon wieder zu lange dauerte, bis Antje sie rief, ging Marie von selbst hin – und bekam vom Portier einen Bescheid, den sie zuerst nicht verstand. Antje war abgereist. Sie war abgereist? Am Morgen hatte sie doch noch gebadet, wie immer mit vielen Bekannten. Marie glaubte dem Portier nicht; er wandte grade den Rücken, da huschte sie nach der Treppe.

      Das Zimmer Antjes stand offen, es war verlassen und noch nicht aufgeräumt. Am Boden lag Papier, dazwischen aber dasselbe Kleid, das Antje hatte Marie schenken wollen. Sie brauchte es noch, aber jetzt hatte sie es fortgeworfen. Marie rollte das Stückchen Seide schnell zusammen und steckte es unter ihre Schürze. Auf dem Tisch stand Kaffee, noch warm. Sie hätte ihn trinken dürfen, sie war eingeladen. Sie sollte wiederkommen, hatte Antje gesagt! Antje erwartete ein Abendkleid aus Hamburg und wollte es ihr zeigen! Marie fühlte eine Beklemmung, so angstvoll, daß sie nicht weinen konnte. Das verlassene Zimmer war leer und ohne jedes Geräusch. Plötzlich nahm Marie reißaus.

      Hiermit war der Sommer zu Ende, es wurde sofort kalt, die letzten Badegäste verschwanden vom Strand. Marie spielte manchmal allein bei den Booten am Wasser, die Fischer beachteten nicht, was sie trieb; sie war doch noch ein Kind, obwohl so hochbeinig. Sie spielte aber Badegäste, sie verkörperte in einem Vicki, Kurt und Marie. Sie befahl Marie, sie abzutrocknen, sie ließ Marie im Sand bauen, sie freute sich zu dreien und warf Steinchen über die glatte See, – die in Wirklichkeit stürmisch war.

      Bald darauf traten schwere Stürme ein, und ein großes Schiff scheiterte vor Warmsdorf. Als es auflief, waren alle Mann schon längst von Deck gespült und ertrunken, aber noch eine Zeitlang trugen